DER STIER VON WIESEN
In alter Zeit hatten die Bauern von Wiesen einen wilden Stier, den sie weder bändigen noch schlachten konnten. Sie mussten ihn in einem eigenen Stall halten, wo er nicht an die Fessel der Kette gebunden war, sondern frei herumgehen konnte. Dem Bauern, der ihn fütterte, tat er nichts zu Leide. Wenn aber jemand anderer in den Stall trat und ihm Futter reichen wollte, musste er sich schleunigst vor dem wilden Stier in Sicherheit bringen.
Einmal geschah es, dass ein fremder Bauer in den Stall trat. Er lief vor dem wütenden Stier so eilig davon, dass er die Tür offen stehen ließ. Der Stier gewann sofort seine Freiheit und rannte davon. Er schlug den Weg nach Xaveriberg ein und flüchtete weiter hinauf zu den Seewiesen. Dort waren gerade Leute beim Mähen. Der Stier hielt an der Lache, trank in langen Zügen daraus und fegte dann über das Wasser. Sogleich sank er in die Tiefe und kam nicht mehr zum Vorschein. Im Sinken stieß er ein so schreckliches Gebrüll aus, dass man es bis Wiesen vernahm. Immer tiefer sank er hinunter und kam nach einigen Stunden noch lebend und laut brüllend beim Wolayer See heraus. Weil er von dem langen Versinken ganz matt war, stürzte er kraftlos in den See zurück. Sein Brüllen war jetzt so schrecklich, dass man es im ganzen Lesachtal und Gailtal hören konnte.
Noch heute vernimmt man, wenn ein Gewitter heranzieht, im Wolayer See ein Brüllen und Brausen. Das kommt von jenem wilden Stier.
Quelle: Sagen und Geschichten aus dem Lesachtal,
gesammelt und niedergeschrieben von den Schülern der 2. Klasse der
Hauptschule Lesachtal Schuljahr 2000/2001, unter den Anleitungen von Hans
Guggenberger und Edith Unterguggenberger