DIE ERLÖSTE JUNGFRAU

In Niedergail spielten einst zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen. Plötzlich stand ein kleines, schwarz gekleide-tes Männlein vor ihnen und sagte, sie sollten sich nicht fürchten, wenn eine weiße Schlange mit einer Krone auf dem Haupt und einem goldenen Schlüssel im Rachen komme. Diesen sollten sie ihr entreißen. Die Kinder versprachen das zu tun, worauf das Männlein verschwand. Bald darauf sahen sie die weiße Schlange daherkommen; sie hatte das goldene Krönlein und den goldenen Schlüssel. Doch ihr Anblick erfüllte sie mit Schrecken, und sie liefen vor ihr davon.

Einige Zeit später schrie die Bäuerin: "Das Essen ist angerichtet!" Gleich kamen die Dienstleute und setzten sich zu Tisch, um das Abendmahl einzunehmen. Nur der "Bua" fehlte. Er war sicherlich etwas Besonderes, er war ja auch an einem Sonntag geboren. An diesem Tag weidete er seine Schafe an der Stelle, wo den beiden Kindern das Männlein begegnet war. Er saß gerade auf einem Stein und schnitzte allerlei Zeichen in seinen Stock. Plötzlich tauchte das kleine Männchen vor ihm auf. Er hatte es von nirgends herkommen sehen, aber es stand da und sprach: "Es wird eine weiße Schlange kommen mit einer goldenen Krone auf dem Kopf. Sie wird einen goldenen Schlüssel im Rachen halten. Fürchte dich nicht und nimm ihr den Schlüssel aus dem Mund."

Die erlöste Jungfrau

Der Halterbub hatte keine Angst und wartete schon ungeduldig auf die Schlange. Plötzlich kam sie. Sie war weiß wie Schnee und schön verziert. Er nahm ihr den Schlüssel aus dem Mund, und in diesem Augenblick stand eine Jungfrau vor ihm. Ein Zauberer hatte diese einst in eine Schlange verwandelt. Freundlich dankte sie nun dem Hirten für ihre Erlösung. Die Freude sollte noch größer werden. Sie nahm den Hirten an der Hand, führte ihn zu einer Klamm, sperrte mit dem Schlüssel die Tür auf und führte den Knaben hinein. Hier konnte er seine Taschen mit Gold und Silber füllen. Die Jungfrau führte den Knaben hinaus und schlug die Tür zu. Schnell lief der Bub nach Hause und erzählte sein Erlebnis. Er führte alle Leute an den Ort des Geschehens, jedoch die Jungfrau war verschwunden, und die Pforte war nicht mehr zu sehen.


Quelle: Sagen und Geschichten aus dem Lesachtal, gesammelt und niedergeschrieben von den Schülern der 2. Klasse der Hauptschule Lesachtal Schuljahr 2000/2001, unter den Anleitungen von Hans Guggenberger und Edith Unterguggenberger