WER HÜTET DAS KIND AUF DER WINTERALM?

Ein Knecht und eine Dirn gingen einmal für einen Sommer als Senner und Sennerin auf die Alm, die einem Bauer aus dem Lesachtal gehörte. Die zwei wären schon lang Mann und Frau geworden, aber sie hatten zu wenig Geld, dass sie sich einen Haushalt einrichten hätten können.

Dieser Lesachtaler Bauer sagte zu ihnen: "Geht auf meine Alm als Senner und Sennerin! Ich schreibe euch den Lohn gut, und in ein paar Jahren könnt ihr Eheleute werden!"

So taten sie's, auch wenn es der Dirn schon recht beschwerlich wurde, auf die Hochalm aufzusteigen. Sie erwartete ja ein Kind, aber im Tal unten sagte sie es noch keinem Menschen.

Oben auf der Alm ging der Knecht, der Gosch, alle Weidezäune entlang und besserte sie aus, damit kein Rind irgendwo in eine Schlucht abstürze. Oft war er den ganzen Tag unterwegs. Die Dirn musste die Kühe melken und die schweren Milchsechter *) in die Hütte tragen. Das machte ihr Mühe, weil sie ja das Kind erwartete. Als der Gosch am Abend heimkehrte, sagte sie zu ihm: "Du darfst nimmer so weit fortgehen von der Hütte. Wenn was geschieht, muss ich dich rufen können."

Der Gosch schüttelte den Kopf. "Was soll geschehen", fragte er, "das Kind kriegst du noch lang nicht." Am anderen Morgen ging der Gosch wieder fort. Gegen Mittag wurde der Sennerin, der Alba, so schwer ums Herz, dass sie rief: "Gosch, komm zurück! Die Zeit ist da!"

Aber der Senner war so weit fort, dass er ihr Rufen nicht hörte. Die Sennerin ging in die Almhütte und meinte, sie müsste sterben vor Angst, weil sie in ihrer schweren Stunde ganz allein war.

Doch wie sie in die Almhütte trat, stand beim Ofen ei-ne Gestalt, nicht viel anders als eine Sennerin, nur ein bissel größer, mit lichten Haaren und Augen, so hell wie Wasser. Sie hatte schon einen Kessel voll Wasser zugestellt. Sie sagte kein Wort und deutete nur gegen das Bett hin. Es sollte heißen: "Leg dich hin! Ich richte schon alles, was Not tut!"

Alba, der Sennerin, wurde gleich leichter. Sie legte sich ins Bett; die Fremde deckte sie warm zu, hängte einen Vor-hang vors Fenster, dass es ein bissel dunkel wurde. So sah auch die Sennerin nicht, was weiter in der Hütte geschah. Sie hörte auf einmal ein Kindl wimmern, das lag schon gebadet und gewickelt auf ihrem Arm.

Gegen Abend hörte die Alba Schritte vor der Almhütte - der Gosch kehrte heim. Er trat in die Hütte und wunderte sich wohl sehr, dass es drinnen so dunkel war. "Wo bist du, Alba?", fragte er. "Komm", rief sie schwach, "wirst gleich erfahren, was geschehen ist, derweil du fortgewesen bist!"

Jetzt sah er, dass die Sennerin schon ihr Kind auf dem Arm hielt. "Wer ist dir beigestanden?", fragte er. "Eine andere Sennerin hat mir geholfen. Weiß nicht, von welcher Alm die hergekommen ist. Sie ist schon wieder weg", gab Alba zur Antwort. Die fremde Sennerin war nicht mehr zu sehen. Aber die Almstube hatte sie noch sauber gefegt und das Melkgeschirr gewaschen und trocken gestellt.

Auf der Alm lief alles weiter. Bald konnte auch die Sennerin wieder selber die Kühe melken und die Butter rühren. Der Gosch blieb in der Nähe, und so konnte sie ihn rufen, wenn was Schweres zu heben und zu tragen war. Es war doch gut, dass er die Zäune schon vorher geflickt hatte.

Das Kindl der Sennerin wuchs heran wie eine junge Rübe, wurde jeden Tag dicker und stärker. Aber wie es dann Zeit zum Almabtrieb wurde, befiel die Sennerin eine Unruhe. Am letzten Abend sagte sie zu Gosch, dem Senner: "Was tun wir jetzt mit dem Kindl? Ich bin ja noch eine ledige Dirn, und da ist es eine große Schande, wenn ich mit einem Kind ins Tal komme!"

Gosch schaute sie betroffen an und meinte: "Ja, was sollen wir denn sonst tun, als das Kind mitbringen?" Die Alba drückte ein bissel herum und wusste nicht, wie sie es sagen sollte. Endlich musste es doch sein: "In der Nacht ist die fremde Sennerin gekommen. Sie hat mein Kind trocken gelegt, hat es gewickelt und hat ihm zu trinken gegeben. Wenn wir es halt auf der Alm lassen wollten über den Winter?"

Gosch brummte: "Wenn du meinst, dass die Fremde wiederkommt, sobald wir von der Hütte weg sind, wär das Kind heroben am besten aufgehoben." Siehst du, so geschah es auch wirklich, dass der Senner und die Sennerin am nächsten Tag die Kühe von der Alm abtrieben und das Kind in der Hütte zurückließen - ganz allein! Die Sennerin weinte auf dem ganzen Abtrieb ins Tal. Unten trocknete sie schnell die Augen, und kein Mensch im Tal erfuhr, dass die Sennerin auf der Alm oben ein Kindl zurückgelassen hatte.

Als der Winter ins Tal kam, bedrückte die ledige Magd und den Gosch mit jedem Tag mehr die Sorge um das Kind auf der Alm. Einmal sagte der Knecht: "Jetzt halt ich's nimmer länger aus. Ich muss auf die Alm und schauen, wie es dem Kind geht!"

Die Alba nickte: "Und wenn das Kind schlecht gehalten ist, nimm es gleich mit ins Tal! Dann sollen es halt die Leute wissen!" Zum Bauern aber sagte der Knecht: "Auf der Alm oben hab ich mein Schnitzmesser vergessen; jetzt hätte ich viel Zeit zum Schnitzen." "Geh hinauf!", ließ ihn der Bauer fortgehen auf die Alm. Das war ein beschwerlicher Aufstieg in dem tiefen Schnee! Der Gosch fand die verschneite Hütte fast nicht. Wie er aber eintrat, war's vom Herd her warm, und das Kindl schlief in weißen Windeln. Sonst aber ließ sich kein Wesen blicken. Er sagte zu sich: "Möchte doch gern wissen, wer unser Kindl auf der Win-teralm hütet!"

Da ging die Tür auf, herein kommt eine große Sennerin mit Augen wie Wasser und mit lichtem Haar. Sie redet nichts; sie deutet dem Gosch: Du kannst wieder gehen - für das Kind ist gesorgt! Der Gosch schlich sich wieder fort, ohne dass das Kindl erwachte. Unten sagte er zur Alba: "Das Kind ist gut behütet!" Im nächsten Sommer ging auch der Bauer mit auf die Alm. Er sah das gut gepflegte Kind, und die zwei durften gleich heiraten.


*) Milchsechter: Milchkanne

Quelle: Sagen und Geschichten aus dem Lesachtal, gesammelt und niedergeschrieben von den Schülern der 2. Klasse der Hauptschule Lesachtal Schuljahr 2000/2001, unter den Anleitungen von Hans Guggenberger und Edith Unterguggenberger