Das Gemskäslein
Im Graubündnerland hauste einst oberhalb Camana, in der Mitte des Safientales, ein wildes Fänggenmännlein. Das hatte in der Felsenhöhle beim Traktenstein eine schöne Gemskäserei eingerichtet, denn es hatte verstanden, die scheuen Grattiere an sich zu locken und sie zu zähmen, besonders dadurch, daß es sie immer zu einer gar köstlichen Salzlecke zu führen wußte. Also ließen sich die Gemsen gar ruhig melken.
Eines Tages nun, als das Fänggenmännlein eben nach dem Wetter ausschauen wollte, kam ein armes, einäugiges Hirtenbüblein auf die Höhle zu, da es draußen ein böses Wetter war. Obwohl es zuerst ob dem wunderlichen alten Männchen und seinem verschrumpften Gesicht erschrak, wurde es doch ganz vertraut, als es von ihm eingeladen wurde, nur fröhlich in die Hütte einzutreten. Dort bekam das Büblein von der Gemsenmilch zu trinken und von den Gemskäslein zu essen. Auch künftig, wenn ein Gewitter über die Alpen ging, durfte das einäugige Büblein in die Fänggenhöhle hineinschlüpfen und von all den guten Dingen essen, die das Männlein aus der Milch der Gemsen zu bereiten verstand.
Das Büblein hatte aber einen unartigen Bruder. Der wollte wissen, was es denn immer in der Höhle am Berg droben zu tun habe. Da erzählte ihm der Kleine von seinen Besuchen beim Fänggenmännlein. Dabei sagte er, die Gemskäse seien so süß, daß sie einem im Munde zerfließen. Nun wollte der unartige Bruder wissen, wie denn das Fänggenmännlein den Gemskäse zubereite. Ei, sagte das Büblein, das wisse es halt eben auch nicht, denn es habe dabei nie zuschauen dürfen. Allemal, wenn es in die Höhle komme und das Fänggenmännlein gerade Käse machen wolle, müsse es sich unter einem Haufen Heidekraut verkriechen, und dann singe das Männchen: "Einäuglein, schlaf ein!" Und dann schlafe es ein, und beim Erwachen sei das Gemskäslein jedesmal schon fix und fertig. Wie nun der unartige Bruder das hörte, beschloß er, dem Fänggenmännlein sein Geheimnis abzustehlen. Er zwang daher eines Tages sein Brüderchen, das Gewand mit ihm zu tauschen. Und während nun das einäugige Büblein das Vieh hüten mußte, ging er in den vertauschten Kleidern selber in des wilden Männleins Höhle Traktenstein.
Das Fänggenmännlein nahm ihn freundlich auf, denn es merkte den Betrug nicht und hielt den unartigen Bruder für das Einäuglein. Verwundert sah sich der Bruder in der Höhle Traktenstein um. Es sah fein und sauber drin aus. Auf dem Boden war starkduftendes Heidekraut ausgebreitet, und ringsum auf den Steinsimsen standen kleine Gepsen (Milchgefäße), die mit Gemsenmilch angefüllt waren, auf der ein zolldicker Rahm stand. Von einem Herd und Käsekessel aber war nirgends etwas zu gewahren. Jetzt scharrte das wilde Männlein das Heidekraut zusammen und ließ den unartigen Bruder, den es immer noch für das einäugige Büblein ansah, darunterkriechen. Dann sang es: "Einäuglein, schlaf ein!"
Nun mußte der schlimme Bruder wohl das eine Auge schließen,
das andere jedoch konnte er offen behalten, und mit dem guckte er nun
fleißig und aufmerksam unter dem Heidekraut hervor. Aber auf einmal
wurde das Fänggenmännlein das eine offene Auge im Heidekraut
gewahr. Jetzt merkte es den Betrug, wurde zornig und warf dem unartigen
Bruder die vollen Milchgepsen an den Kopf. Hierauf verließ es die
Höhle für immer.
Quelle: Meinrad Lienert,
Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner
2005.