Der Ritter von Lasarraz
Im fruchtbaren Waadtlande, zwischen dem Genfer- und Neuenburgersee, stand einst eine kleine Burg, die der Ritter von Lasarraz bewohnte. Das war ein kühner und tapferer junger Edelmann, der sich vor nichts fürchtete, also daß ihn der Graf, dessen Vasall er war, sehr wohl leiden mochte. Dieser junge Ritter nun verliebte sich in die Tochter seines gräflichen Oberherrn, und obwohl man ihm sagte, sie habe ein kaltes Herz, so hielt er bei ihrem Vater doch um ihre Hand an. Der Graf versprach ihm die Tochter, wenn er ihr zur Hochzeit als Morgengabe eine Burg und dreihundert schöne Kühe zu geben vermöge.
Der Ritter von Lasarraz ging nun zu seinen hochbetagten Eltern und bat sie, ihm doch die Burg und die dreihundert weiß und schwarz gefleckten Kühe für seine Braut zu überlassen. Obwohl nun das gerade der ganze Reichtum der alten Eltern des Ritters war, überließen sie doch sofort alles ihrem Sohne, damit er's ihrer künftigen Schwiegertochter als Hochzeitsgabe verehre. Sein Glück ging ihnen über alles.
Nun verheiratete sich der junge Ritter mit der kaltherzigen Grafentochter. Aber kaum hatten sie sich verehelicht, wußte die Schwiegertochter den Eltern ihres Mannes das Leben zu verbittern. Sie kamen bald ins größte Elend, denn ihr eigener Sohn schien von allem dem, was ihnen die Schwiegertochter zuleid tat, nichts zu bemerken. Er schien es nicht zu gewahren, wie sie Not an allem auf ihrer kleinen Burg Lasarraz litten, wo sie ja keine einzige Kuh mehr im Stall hatten. Als nun ein gar böser Winter ins Land kam, hielten's die alten Eltern nicht mehr aus vor Hunger und Frost. Sie verließen ihre zerfallende Burg und begaben sich zu ihrem Sohne, der nun ein gar stolzes Schloß bewohnte. Da baten sie eines Abends, als ein wildes Schneegestöber durchs Land ging, um Einlaß. Sie wurden auch aufgenommen, aber unfreundlich genug. Während einiger Zeit gab man ihnen zu essen und zu trinken, aber kümmerlich genug. Und eines Tages beschloß der junge Ritter Lasarraz, von seinem bösen Weibe dazu aufgestachelt, die alten Eltern zu verstoßen.
Man setzte sie in elendem Gewand und mit leerem Magen vor das Schloßtor, das man sogleich hinter ihnen zuschmetterte. Während sie nun in der Nacht umherirrten und vor Frost und Hunger schier umkamen, ließ sich der junge Ritter, um es besonders behaglich zu haben, am gemütlichen Kaminfeuer den Tisch decken. Man stellte eine mächtige Wildbretpastete mit appetitlichem Backwerkgehäuse vor ihn hin und eine Kanne feinen Waadtländer Weins. Wohlgemut ließ er sich in seinen weichen Posterstuhl fallen, hörte dem Knistern und Knattern des frischen Holzes im Kamin zu, stieß mit seiner bösen Frau an, und dann hob er schmunzelnd den Deckel von der fein duftenden Pastete. Aber mit einem fürchterlichen Aufschrei fuhr er zurück, und voll Entsetzen und Abscheu starrte ihn seine Frau an: aus der Fleischpastete waren ihm zwei garstige Kröten ins Gesicht gesprungen und hatten sich auf seinen beiden Wangen fest eingekrallt.
Totenbleich vor Schrecken bat und flehte nun der Ritter sein Weib an, es möchte ihn doch von der scheußlichen Schlammbrut befreien. Lange konnte das böse Weib den Ekel vor den abscheulichen Geschöpfen nicht überwinden. Und als sie's endlich doch wagte und die Kröten von seinen Backen reißen wollte, spien diese nach ihr und schauten sie mit grausen, giftigen Augen an, als wollten sie ihr ins Gesicht springen. Und dabei näherten sie sich immer mehr den Augen des Ritters, als wollten sie dieselben verschlingen. Vernichtet sank das Weib auf den Stuhl zurück, und weder die herbeigerufenen Knechte noch die Mägde vermochten die Kröten von den Wangen des Ritters zu entfernen, mit denen sie nun fest verwachsen schienen.
Jetzt fiel es wie ein Berg auf das Herz des Ritters von Lasarraz, was er an seinen Eltern gefrevelt hatte. Er rief den Burgkaplan und beichtete ihm seine Missetat. Aber der Geistliche bekreuzte sich und sagte, seine Untat gegen die alten Eltern sei zu groß, als daß er sie von sich aus vergeben könnte. Er müsse sich an den Bischof wenden. Also brach der Ritter auf und reiste bei Nacht und Nebel zum Bischof. Wie der nun die grausen Kröten in des Ritters Gesicht sah und vernahm, wie sehr sich der junge Herr gegen seine Eltern versündigt hatte, bekreuzte er sich ebenfalls und verwies ihn an den Heiligen Vater, der ihm allein so ungeheuerliches Unrecht nachzulassen vermöge.
Schweren Herzens machte sich der Ritter Lasarraz auf und wallfahrtete als ein Büßer über das Gebirge nach Rom. Dort traf er den Heiligen Vater, wie er eben auf dem Throne saß und Audienz gab. Mit Entsetzen sah ihn auch der Papst an und hörte betrübt seine Beichte über seine Undankbarkeit gegen die guten Eltern. Danach gab er ihm eine schwere Buße auf und sprach zu ihm: "Geht nun wieder nach Hause und sucht Vater und Mutter auf. Und wenn sie verzeihen, so wird das Schandmal verschwinden, womit Euch Gott gezeichnet hat."
Also kehrte der Ritter Lasarraz in sein Vaterland zurück. Dort angekommen, suchte er Tag und Nacht nach seinen Eltern, aber vergeblich, kein Mensch wußte, wo sie hingekommen waren.
Eines Tages aber kam er durch einen verschneiten Wald. Da sah er eine einsame Einsiedelei, und wie er hineinging, um den Klausner zu begrüßen, fand er darin statt eines Klausners die Leichen eines alten Mannes und einer alten Frau, die schon lange verhungert und erfroren waren.
Mit tödlichem Schrecken erkannte er in ihnen seine greisen Eltern. Er warf sich auf sie und bat sie unter Tränenströmen um Vergebung. Auf einmal verließen die zwei Kröten die Wangen des Ritters, krochen aber auf dessen Rücken, wo sie sich wieder fest einkrallten.
Er begrub nun seine Eltern feierlich, aber die Kröten wollten nicht von seinem Rücken herunter.
Zwanzig lange Jahre mußte er sie dort, sie sorgfältig mit seinem Wams verbergend, noch tragen, denn da er seine Eltern nicht mehr lebend angetroffen, war seine Schuld nur halbwegs gesühnt. Und sein Frevel gegen seine Eltern rächte sich auch an seinem Weibe, das eine Schlange totbiß, und an seinem einzigen Sohne; denn eines Tages erstach dieser den Vater aus Begierde nach der Erbschaft.
Als nun der Ritter Lasarraz tot lag und begraben war, ging sein fluchbeladener Sohn auf die Jagd und wurde von einem Bären zerrissen. So starb das Geschlecht Lasarraz ruhmlos aus.
Zum ewigen Gedächtnis an dieses Schreckliche errichtete man in der Schloßkapelle zu Lasarraz eine Statue, die einen Ritter vorstellt, auf dessen Wangen und Rücken sich zwei grause Kröten blähen.
Quelle: Meinrad Lienert,
Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner
2005.