438. Agnes von Brunnberg.
Nesa von Brunberg war von dem Wege einfacher und reiner Sitten abgewichen, auf welchem sie doch ihre Eltern und Geschwister hatte wandeln sehen. Sie zog es vor, den Lockungen des reichen Ritters von Rätenberg Gehör zu geben, ihrem Elternhause und den Ermahnungen und Tränen ihrer Mutter den Rücken zu kehren und nach Rätenberg zu ziehen, um in Leichtsinn und Schande ihr Leben hinzubringen. Der Ritter von Rätenberg hatte seine rechtmäßige Gattin von der Burg vertrieben; nun fesselte er Nesa an sich durch reiche Geschenke, durch Vergnügen, wie sie Zeit und Ort nur immer bieten konnten, und Nesa ließ sich von dem Glanze blenden. Sie scheute sich nicht, auf schöngeschirrtem Pferde und in prunkendem Kleide in der um Brunberg liegenden Feßwaldung zu jagen, bei den Fenstern ihrer elterlichen Wohnung vorbeizusprengen und dabei die Töne der Hörner erklingen zu lassen. Das war den Gefühlen der Mutter zu viel; der Schmerz um die Verirrungen ihrer Tochter warf sie auf das Sterbebett. Ihre nahe Todesstunde fühlend, wollte die Mutter einen letzten Versuch zur Besserung ihrer Tochter machen. Seit Jahren hatte aller Verkehr zwischen Mutter und Tochter aufgehört; jetzt aber sandte sie einen Diener mit der Aufforderung an die Tochter, zur letzten Lebensstunde der Mutter zu kommen und ihr letztes Wort zu hören. Zu einer andern Zeit hätten Gatte und Söhne gegen eine solche Botschaft Einsprache erhoben; jetzt aber ließen sie diese gewähren. Aus dem Hause getreten, hörte der Diener den Lärm der Jagd im Fetzwald; kaum war er in das Dunkel des Forstes gedrungen, so rauschte ein Hirsch an ihm vorbei. Bald folgte ein Rudel Hunde und hinter diesen der Ritter von Rätenberg und Nesa zu Pferd.
"Um Gottes willen, Herrin, haltet!" rief der Bote. "Eure Mutter liegt im Sterben und will Euch noch einmal sehen. Kommet und zögert auch nicht einen Augenblick." Nesa hatte das Pferd wirklich angehalten und blickte unschlüssig den Ritter an. "Pah!" rief dieser; "alte Weiber wollen alle Tage sterben und sterben doch nie. Stirbt sie, so wird sie den Himmel wohl finden; wir aber verlieren den Hirsch. Vorwärts, vorwärts!" Er spornte sein Roß, gab auch dem andern einen Hieb, und vorwärts brauste die Jagd. Wie der Diener diesen Bericht nach Brunberg brachte, stieg die furchtbarste Erbitterung im Herzen des Vaters und der Brüder auf; die Mutter ließ eine Träne ans ihrem Auge fallen, faltete die Hände und sprach ein leises Gebet. Alle fühlten, daß hier etwas geschah, was ihnen unmöglich gewesen wäre; die Mutter betete für die verlorene Tochter. Auf einmal aber zuckten die Lippen der Flehenden; der Engel des Todes hatte ihr Gebet und ihre Seele in Empfang genommen.
Noch einige Jahre ging es so; dann zog auf dem Ratenberg die Armut ein, und endlich mußte der Ritter selbst seine Burg verkaufen. Er schloß sich als gemeiner Krieger einem Zuge nach Jerusalem an, und niemand hat von ihm weiter etwas gehört. Nesa aber wurde eine fahrende Sängerin. Die Lieder, die ihr früher beim üppigen Mahl auf Rätenberg vorgetragen worden waren, sang sie jetzt selbst in ärmlicher Kleidung in den Höfen und Hallen anderer Burgen und selbst auf Märkten, um so den kümmerlichen Lebensunterhalt zu gewinnen. Da faßte sie plötzlich eine der verheerenden Krankheiten, die in jenen Zeiten so häufig und so mörderisch waren, und mit der Krankheit faßte sie zugleich eine mächtige Sehnsucht, das Haus ihrer Väter noch einmal zu sehen. Den Tod im Herzen, schleppte sie sich der Heimat zu, kam gerade zu jener Stelle, wo am Eingang der Feßwaldung der Weg von Rickenbach nach Kirchberg sich in zwei Äste spaltet, aber nicht mehr weiter. Wie ein Gespenst stieg hier eine strafende Erinnerung aus dem Boden; dies war die Stelle, wo der Diener ihrer Mutter sie angerufen und vor das Sterbelager gefordert hatte. Unter der ersten Tanne rechts vom Fußwege nach Kirchberg sank Nesa zusammen und gab den Geist auf. Aber diesem Geiste versagte eine höhere Macht die Pfade in die jenseitige Welt. Die Träne einer sterbenden Mutter verschloß ihr den Himmel; das Gebet der sterbenden Mutter verschloß ihr den Ort der Strafe und der Reinigung. So blieb die Seele festgebannt an den Ort, wo sie aus dem Körper getreten war. Sobald die Dämmerung in Nacht überging, sah der Vorbeigehende ein weibliches Wesen unheimlichen Aussehens unter der Tanne sitzen. Alter oder Sünde und Not hatten tiefe Furchen in das Antlitz gegraben, und das lauernde Feuer der Augen zog unwillkürlich jedes Herz enger zusammen. Diese weibliche Gestalt war die hingeschiedene Nesa, war jene arme Seele, die so übel ihren Lebenspfad gewählt hatte. Die verirrte Seele Nesas behielt aber die bösen Neigungen bei. Wenn immer ein des Weges unkundiger Wanderer das unter der Tanne sitzende Weibchen um den rechten Pfad nach Wolfikon und Kirchberg fragte, so schoß ein blitzartiges Leuchten aus ihren Augen, und sie wies ihm einen. Wehe ihm, wenn er der Weisung folgte. Stundenlang irrte er in den Waldungen umher und holte sich bei stürmischer Witterung im Sommer Krankheiten, im Winter den Tod. Die nähern Anwohner waren daher bald über die eigentliche Natur des weiblichen Wesens unter der Tanne aufgeklärt; sie warnten ihre Kinder und Hausgenossen, in der Dunkelheit bei der gespenstischen Stelle vorbeizukommen, und wenn das Feßfräulein unter der Tanne sitze, sollen sie ja keine Frage an dasselbe richten, ja nicht auf dasselbe hören, sondern fromm das Kreuz schlagen und rasch vorbeieilen.
Wohl errichtete eine fromme Hand, der Nesas Geschichte bekannt war, das Bildnis der Gottesmutter an der Tanne, unter welcher das Fetzfräulein seinen Sitz Hatte; sie hoffte damit die Kraft jener letzten Träne der Mutter Nesas aufzuheben und der Seele der Tochter den Weg ins Jenseits zu bahnen. Vergebens! Noch Jahrhunderte lang übte das Fetzfräulein sein unheilvolles Wesen. Noch jetzt leben Leute, die seine Erscheinung wahrgenommen haben wollen. Da geschah es, daß an einem stürmischen Winterabend ein Mädchen von 18 Jahren den Fußweg hereilte. Angst und Wehmut malten sich in seinen Zügen; sein Schritt war eilig. Da plötzlich stund es am Eingang der Feßwaldung stille; es wußte nicht, welchen Weg es zu wählen hatte. Es blickte um sich, und sieh da, unter der ersten Tanne faß ein altes Weibchen, das ihm zunickte.
"Um Gottes willen," rief das Mädchen, "wo geht man nach Wolfikon?" Das Weibchen blickte das Mädchen eine Zeit lang an. Gerade in diesem Alter und Schmuck der Jugend war Nesa gewesen, als sie den Pfad der Abwege betreten hatte. Es schien, als wollte sich dem Geiste Nesas ihr eigenes früheres Bild vor Augen stellen. Endlich aber zuckte das unheimliche Feuer aus dem Auge des Weibchens; stumm erhob es den Arm und wies den Pfad — es war der falsche. Schon wollte sich das Mädchen dahin und damit in sein Verderben stürzen. Da blickte es noch einmal das Weibchen an und sah das Hohnlächeln auf dessen Lippen. "Um Gottes Barmherzigkeit willen," rief das Mädchen; "wenn Ihr selbst das Feßfräulein seid, erbarmt Euch und zeigt mir den rechten Weg. Die Mutter liegt auf dem Sterbebette und möchte mir noch ihren Segen geben! O, bringt mich nicht um mein Heil, ich habe fönst nichts; bringt die Mutter nicht um den letzten Anblick der Tochter! Mensch oder Geist! Gott wird es Euch vergelten!" So sprechend und die Hände ringend, kniete sie vor dem Weibchen nieder. Das Weibchen blieb längere Zeit stumm; endlich brach ein Lichtstrahl aus seinem Auge, aber ganz ein anderer als früher; es war ein milderes, ein vertrauenerweckendes Licht. Sie erhob den Arm und zeigte der Flehenden einen andern, den rechten Pfad, und das Antlitz wurde dabei so mild, daß das Mädchen ohne den mindesten Zweifel forteilte. Nun war aber auch die Stunde gekommen, welche Nesas Seele gereinigt und befreit hatte. In diesem Mitleide mit dem Geschicke eines Mädchens, das zur sterbenden Mutter eilte, hatte sie ihr eigenes Verbrechen gesühnt, und ihr Geist erhob sich nun in andere Räume. Wohl besteht zur Stunde noch das Marienbild an einer Tanne beim Eingange in den Feßwald, wohl eilen jetzt noch die Wanderer scheu an dieser Tanne vorbei; — dennoch wurde das Fetzfräulein von keinem Menschenauge mehr erblickt.
C. G. J. Satter.
(Chronik von Wil, St. Gallen, Scheitlin & Zollikofer, 1864.)
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 458, S. 270
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