350. Annelis Grötzli
Wenn man so vor 60—70 Jahren den obern Teil der Bärschner Alp durchquerte, stieß man von ungefähr auf eine Rottannenleiche. Ihr modernder Stamm zeichnete eine ziemlich gerade Linie am Boden hin, die ihre einstige Höhe genau andeuten mochte. Ihr zur Seite lagen die weißgraugebleichten Astüberreste. Dieser Baum wurde „Annelis Grötzli" geheißen und zwar aus folgenden Gründen:
Ein altes Weib, mit Namen Anna, sei mit Tod abgegangen (ob an dieser Stelle oder wo anders, wird nicht gesagt) und müsse hier wegen eines zu Lebzeiten begangenen Verbrechens „wandeln" und ;war so lange, bis es von jemand erlöst werde. Es erscheine in schwarzer Kleidung und weißgrauer Haube, gehe in gebückter Stellung einher, werde von Hirten nicht selten gesehen und nicke gegen sie, wenn es sehe, daß es von ihnen beobachtet werde. Doch die Stunde der Erlösung kam für das arme Weib. Als nämlich einmal ein Knecht dem Sennen erklärte, er fahre mit dem Vieh nicht mehr dahin zur Weide, da das Anneli ihm wieder erschienen sei und den Drohfinger gegen ihn erhoben habe, da hätte dieser im Unmut seinen Stock ergriffen, sei hingeeilt, habe auch sofort das Anneli gefunden und zwar in Gestalt eines halbverfaulten Baumstrunkes, in Mannshöhe mit einem seitlich ausgewachsenen grauweißen Schwämme geziert. Diesen riß der Senn weg, übergab ihn, in der Hütte angekommen, dem Knechte mit den Worten: „Nun habe ich das Anneli erlöst-zum Danke dafür schenkte es mir seine Haube, und ich schenke sie dir nun zum Angedenken an deinen heute bewiesenen Heldenmut in dieser mit jetzt glücklich abgeschlossenen Schauergeschichte."
O. Giger.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 350, S. 196f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, November 2005.