193. Das Bockschinden ob Valeis
Über der Felswand von Valeis stand eine Föhre, deren Aste über den gähnenden Abgrund hinausragten. An einem dieser Äste wollte Hansrudi, ein junger Senn auf der nahen Alp, den Bock schinden, d. h. er wollte sich an den Knieen dort aufhängen, Kopf und Leib nach abwärts gerichtet. Als Lohn sollte er die schönste Zeitkuh der Herde erhalten, d. h. ein schönes, trächtiges Rind. Die Braut des Sennen mahnte ab und bemerkte, daß er des ausgesetzten Preises nicht bedürftig wäre, da er reich genug sei und schon manch schönes Stück Vieh besitze. Er soll Gott nicht versuchen. Der Bräutigam jedoch lachte und hängte sich an den Baum.
Aber in der Tiefe erschien ein Tier, das aus Rachen und Augen Feuer spie; es stieg hinauf und hängte sich dem Hirten an den Hals, zerkratzte ihn und zog ihn in den Abgrund hinunter. Uli, der ihn zu dieser frevlen Tat bewogen hatte, um ihn zu verderben, schlug mit den Füßen nach dem Unglücklichen und fiel selbst hinunter.
Ein Waldbruder war in der Nähe gestanden. Mit einem frommen Spruch
konnte er den Sennen aus den Händen des Bösen befreien; aber
Uli fand ein unseliges Ende und trabt heute noch als Valeisenhund durchs
Tobel hinaus in das offene Tal und auch wieder zurück.
(Nach J. J. Reithards Gedicht.)
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 193, S. 90
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.