294. Der böse Schlossherr
Auf der Burg Gräplang wohnte einst ein böser Schloßherr, der in seiner Bosheit von den Bauern Unmögliches verlangte. Einer von ihnen sollte dem Unerbittlichen die mächtigste Eiche, die im Walde stand, an einem Stück zur Stelle schaffen.
Während der Bauer das seinem Weibe klagte und beide ratlos und verzagt waren, erschien ein gutgekleideter Fremder, der sie teilnehmend fragte, was sie denn so beängstige. Sie klagten ihm ihre Not; er aber lachte über ihren Kummer und versprach ihnen ihre Hilfe. Gleich stand er auch mit einem Wagen und vier feurigen Rappen vor ihnen und wünschte, daß ihm der Mann die Eiche zeige. Ein Ruck, und sie lag entwurzelt da; ein zweiter Ruck, und sie lag auf dem Wagen. Nun ging's nach dem Schlosse.
Der Vogt wurde gerufen, daß er das Gewünschte in Empfang nehme. Er meldete, es sei ihm jetzt nicht gelegen; morgen erst könne dieses geschehen. Die zweite Mahnung ging ab und endlich auch die dritte; denn da draußen stehe einer, der auch die Angewachsenen von der Stelle zu bringen wisse.
Nun kam der Ritter doch; aber wie erschrak er! "Aha, du kennst mich?" fragte der Fremde. "Du wirst auch meine vier Rappen kennen?" Das verneinte der Gestrenge. Der Fremde sprach hierauf: "Galgenfutter, auf dem Schlosse gewachsen! Sie waren vor dir auf dem Schloß, und du bist ihr würdiger Nachfolger!"
Dann packte er den erschrockenen Tyrannen, und in sausender Eile und unter einem wüsten Geschrei ging es nach dem Haken hin.
Der Bauer aber, der zugesehen hatte, blieb vor dem Schlosse stehen und
sprach ein frommes Gebet; denn jetzt ward ihm klar, wer der starke Fremde
gewesen.
A. Sprenger
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen,
Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 294, S. 163f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, August 2005.