161. Der Brudermord
Einst lebte auf der Burg Wartau der edle Graf Wilhelm, mild gegen die Untertanen und freundlich mit den Seinen. Aber der jüngere Bruder, der aus fernen Kriegen heimkam und nach dem Besitze der Gräfin und der schönen Herrschaft gelüstete, störte den Frieden. Er war ein schlimmer, verwegener Mann. Auf einer Jagd erschlug er seinen Bruder und gab vor, ein wildes Schwein habe ihn getötet. Ohne auf Recht und gute Sitte zu achten, eignete er sich dann gleich alles an, was dem Grafen gehört hatte.
Aber als er einmal wieder auf die Jagd ging und an der Stelle vorbeiritt,
wo er seinen Bruder ermordet hatte, traf ihn der tödliche Blitzschlag.
Nach drei Jahren wuchsen daselbst drei Buchen mit rotem Laube, und alle
Jahre am Todestage des Grafen hingen an deren Blättern statt der
Tautropfen Tropfen von Blut. Diese Buches jetzt schon lange verschwunden
und die stolzen Mauern der Burg gebrochen; aber wenn der Wanderer zu gewissen
Zeiten des Jahres in gewisser Stunde der Nacht seine Blicke aufmerksam
nach der Gegend des einstigen Schlosses richtet, steht er von der Ruine
ans ein Lichtlein über den Boden hinschweben, fort über die
Hügel und die Tälchen, und er sieht es erlöschen, wo der
unglückliche Graf Tod gefunden.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 161, S. 76
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Mai 2005.