302. Der Küher

In einer Sente zu Fursch war auch die einzige Kuh einer armen Witfrau. Diese Kuh war das Kreuz des Kühers. Immer und immer stieg sie auf Felsen und über Abgründen dem "Zöchtgras" nach und verleitete auch andere dazu. Dem Hirten wurde sie unwert. Er legte auf dem Stollen frischgeschälte Tannenrinde hin. Sobald die Kuh darauftrat, rutschte sie aus, stürzte über die Felswand hinunter und zerschmetterte im waldigen Abgrund, Der Hirt jauchzte vor Freude.

Viele Jahre später brannte im Walde unten ein Köhler Holzkohlen. Beim Wetterwechsel hörte er in der Nacht jauchzen und dann wieder ächzen und stöhnen. Nun rief er in das Dunkel hinaus, was das sein solle. Da trat einer zu ihm und erzählte, er sei der Küher und müsse die "erfällte" Kuh mit Ächzen und Stöhnen auf den Stollen hinauftragen. Dort stehe die Kuh wieder auf die Tannenrinde, rutsche aus und falle hinab. Dann müsse er jauchzen. So oft er die Kuh hinauftrage, könne er einen Heller abbüßen an dem Schaden, den er der armen Frau zugefügt. Das sei ihm als besondere Gnade gestattet worden, weil er zur Zeit der strafbaren Handlung erst siebzehn Jahre alt war; sonst wäre er ewig verloren gewesen.
J. B. Stoop

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 302, S. 168
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, August 2005.