232. Der Drache
Droben über dem Dorf Vättis, im gelben Berg, 2100 Meter hoch,
befindet sich eine Grotte, wohl eine der interessantesten in der Schweiz.
Schade, daß sie nicht allgemeiner bekannt ist. Sie besteht aus drei
in gerader Richtung hintereinander in das Innere des Berges fortlaufenden
Abteilungen, die alle die gleiche Form haben, vornen am Eingang hoch und
weit, nach Innen sich symmetrisch abschließend und verengend. Die
Seitenwände und die gewölbartige Decke sind so gleichförmig
und regelrecht, daß man meinen möchte, die Grotten oder Hallen,
wie wir sie nennen möchten, wären von Menschenhänden ausgebrochen
worden. Die erste Halle hat ein großes Portal; sie ist ungefähr
8 Meter lang, vornen 3 Meter, hinten 1 ½ Meter breit, am Eingang
7 Meter, am Ausgang 3 Meter hoch. Hier tritt man wie durch eine Türe
in die zweite Halle, die etwa einen Drittel des Raumes der ersten einnimmt.
In die dritte Abteilung kann man nur in gebückter, knieender Stellung
eintreten. Sie ist noch um die Hälfte kleiner als die mittlere. An
ihrem Ende ist eine senkrecht ablaufende Öffnung von ¾ Meter
Durchmesser. Bisher bat sich da noch niemand hinabgewagt, um das Innere
des Berges zu untersuchen. In dieser Grotte nun habe vor Zeiten ein grimmiger
Drache gewohnt, von woher die Höhle den Namen Drachenloch erhalten
hat. Es sei dem Drachen aber nach langer Zeit in seiner Burg zu langweilig
geworden, und er habe den kühnen Flug hinüber über die
Tamina nach dem Calanda gewagt. Man sieht von Vättis aus in einer
jähen, hohen Felswand das Loch, wo er hineingeflogen. Allein er habe
im Innern des Berges keinen Grund und Boden gefunden und sei dann viele
tausend Fuß hinuntergestürzt und da elendiglich umgekommen.
"Oberländer Anzeiger."
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 232, S. 115
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.