108. Entrückt und irregeführt
Eine halbe Stunde nordöstlich von Grabs, in der Talebene, liegen einige Güter, welche den Namen Gula tragen. Dorthin wollte sich bei Anbruch der Nacht ein Grabser begeben, um seines Viehes zu warten. Unverhältnismäßig lange lief er schon und hatte sein Ziel noch nicht erreicht; er lief, bis er todmüde sich niederlegen mußte und sein Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einer ihm fremden Gegend; doch sah er die Spitzen des Margelkopfes und der Appenzellerberge, von der Morgensonne beleuchtet; neben ihm standen zwei gemauerte Säulen; über sich erblickte er einen Querbalken; er hatte unter dem Galgen bei Vadutz gelegen
Wie ist dieser Mann in die Herrschaft Vadutz gekommen, da ja zu jener Zeit über den Rhein noch keine Brücken, sondern nur Fähren führten? Er behauptet, verhext gewesen zu sein.
Ähnlich erging es vier Holzern. Etwas nach Mitternacht, beim Mondenschein, stiegen sie, den Holzschlitten auf der Schulter, den Grabserberg hinan. Sie halten die Absicht, mit ihrer Arbeit in der Voralp vor Tagesanbruch zu beginnen. Sie waren noch nicht lange gegangen, so verdüsterte starker Nebel das Licht des Mondes, und bald bemerkten sie, daß sie sich verirrt hatten. Nach kurzer Zeit fanden sie im Schnee einige Fußspuren; diese vermehrten sich zusehends. Der Weg wurde immer breiter, und dennoch kamen sie nicht ans Ziel, Von mehrstündigem Laufen ermüdet, setzten sie sich auf ihre Schlitten. Bei Tagesanbruch befanden sie sich nicht weit ob dem Dürfe; sie waren beständig um einen Büchel herumgegangen. Deshalb hatten sich die Fußstapfen im Schnee vermehrt, und deshalb war der Weg breiter geworden.
Man war allgemein der Ansicht, daß es hier nicht mit rechten Dingen
zugegangen; die Schuld wurde einer alten Frau, der Bach-boden-Greta zugeschrieben.
Heinrich Hilty.
Anderorts
fagt man, die Wanderer seien auf ein Irrkraut getreten.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 108, S. 52f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Mai 2005.