264. Ernste Mahnung
Einst beabsichtigte ein Senn, das Ave Maria nicht mehr zu beten und blieb deshalb um die bestimmte Zeit in der Hütte, wo er mit den andern Knechten des Gebetes spottete.
Da flog mit lautem Krachen die Hüttentüre auf. Es wollte sich aber niemand zeigen, der diese aufgemacht hätte, weshalb sie die Knechte wieder zuschlössen. So geschah es auch zum zweiten Male. Als der Senn beim dritten Male die Türe wieder schließen wollte, sah er einen ungewöhnlich großen Mann vor der Hütte stehen, der einen hohen, wackeligen Hut auf dem Kopfe trug und der ihn mit einer tiefen, wie aus der Ferne her tönenden Stimme also anredete: "Ich rate dir, unverweilt das Ave Maria zu beten!"
Zitternd und bebend gehorchte der Knecht. Der finstere Nachtwandler aber
stand hinter ihm, schaute ihm während des Gebetes über die Achsel
und sprach nachher: "Es ist dir guot chu, daß du kei einzigs
Wort usglu häst; sust hätt ich dich verrupft wie 's Gstüpp
in der Sunnä!"
I. Natsch
Gstüpp, Stuppe heißt der Abfall des Werges beim Hanf. Gemeint
sind wohl die leichten Nebel, die vor der Sonne weichen.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 264, S. 143
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.