246. Ewig verflucht.
Wo heute der Sardonagletscher liegt, da war früher die schönste Alp des ganzen Tales; von der hohen Terrasse schaute sie über das Land. Sie gehörte dem Hirten Segnes, der sie vom sterbenden Vater unter der Bedingung geschenkt erhielt, daß er für die Mutter sorge. Sein Haus stand unten im Tale. Aber auf dem Rathausboden dort unten wohnte auch Sardona, die Geliebte des Sennen, ein schönes, reiches Mädchen, dem die Alp Kratzere droben am Muttentalergrat gehörte. Das Mädchen war hoffärtig über alle Maßen. Das sah die alte Mutter des Hirten nicht gerne und bot daher alles auf, das Liebesverhältnis der beiden zu lösen. Vergeblich! Die schwarzen Augen auf dem Rathausboden waren mächtiger als der Mutter Wort. Die beiden Liebenden berieten, wie sie die Alte aus dem Wege schaffen könnten.
Als der Frühling ins Land zog, da stieg Segnes mit seinem Vieh zur Alp hinauf. Die Mutter konnte ihm nicht folgen; denn sie war alt und krank. Ihre Lebensmittel gingen aber bald aus, und der Sohn blieb auf der Alp und hielt ihr nichts zu. Wie sollte sie ihr Leben weiter fristen? Von bitterm Weh erfüllt, entschließt sie sich, wenn möglich auf die Alp zu steigen und von dem Sohne Hilfe und Fürsorge zu verlangen. Langsam, dem Tode nahe, schleppte sie sich den Berg hinauf. Aber zwei feurige Augen haben sie erspäht; unbemerkt, auf verborgenen Pfaden, schleicht Sardona ihr nach. Die Mutter kommt zur Hütte und bittet den Sohn um ein Stückchen Brot; auch droht sie ihm mit der Strafe Gottes wegen seiner Pflicht-Vergessenheit und Ruchlosigkeit. Höhnend holt der Sohn vom "Scherm" herauf einen Napf voll Jauche und setzt diesen der Mutter vor. Sie klagt nun nicht mehr; den tödlichen Schmerz in der Brust, wendet sie sich zum Gehen, um im Tale unten zu sterben. Eben kommt das hoffärtige Mädchen vom Rathausboden stolz dahergeschritten und geht verächtlich an der bleichen Alten vorüber, Segnes sieht die Geliebte kommen, holt eilig einige Käslaibe aus dem Keller und legt sie der Braut auf den Weg, damit sie ihre Schuhe nicht beschmutze. Voll Bosheit ruft er noch der Mutter nach: "Das ist ein anderer Besuch!" Diese aber kehrt sich um und spricht mit ihrer letzten Kraft: "So bleibet immer und ewig beieinander!"
Die Mutter hat's gesprochen, der Himmel hat's gehört! Es fängt
an zu regnen und regnet den ganzen Tag; am Abend fängt es an zu schneien
und schneit die ganze Nacht hindurch. Am andern Morgen sah man keine Hütte
und keine Herde mehr; ein gewaltiger Gletscher hatte alles Lebende bedeckt,
und er bedeckt es heute noch. Alljährlich aber an dem Tage, da der
Frevel geschehen, tut sich im Gletscher eine Spalte auf, und die Gebannten
steigen herab an deren Rand und rufen flehentlich der Mutter, damit sie
das böse Wort zurücknehme. Sie horchen und horchen nach allen
Winden hinaus, ob sich die erlösende Stimme nicht hören lasse.
Immer geschah es bisher vergeblich; immer wieder müssen sie zurückkehren
in das kalte Verließ, und immer wieder schließen sich die
eisigen Pforten, - Mitunter schaut der Sauren so düster ins Land
und schüttelt seine schneeigen Locken; dann stürzen die Lawinen
über seine Stirn hernieder und donnern zum Gletscher herab. Er ist
unwillig darüber, daß er den Fluch mittragen soll. In dunkler
Wetternacht vernimmt man aus dem Gletscher heraus auch die Klagerufe der
Gebannten. Der fremde Wanderer freilich glaubt, es sei das Pfeifen des
Windes in den Tannen und Felszinken oder das Krachen des berstenden Eises;
aber der Landeskundige weiß es besser und gedenkt schaudernd der
Schuld, die solche Strafe gefordert.
F. W. Sprecher, Jahrbuch, Alpenklub.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 246, S. 124ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.