347. Das Goldloch am Gamsberg und der Venediger

Am „gewaltigen Gamsberg", wie der Geologe Mösch den schroffen Gipfel über der Tscherlacher Alp Sennis nennt, gelangt man auf der Südostseite von einem „ewigen" Schneefleck, dem Rest eines nach seinen schönmodellierten Moränen ansehnlichen Gletschers, über ein breites, aber ungemein abschüssiges Felsenband zum Goldloch, einem großen, mit Legföhren bekränzten Gufel (Felsüberhang), aus dem ein nasser, schlammiger, dunkler Gang aufwärts in den Berg hinein führt.

Vor vielen Jahren kam regelmäßig alle Jahre ein Venediger auf die Alp und verlangte Nahrung und Obdach. Täglich sei der Venediger frühmorgens fortgegangen und habe in den Bergen nach Schätzen gesucht. Im Herbst belohnte der Venediger den Älpler reichlich und kehrte dann mit seinen Schätzen in die Heimat zurück.

Nach mehreren Jahren wurde einer der Alpler von Neugier und Habsucht getrieben, dem Venediger heimlich nachzuschleichen; er kam gerade dazu, wie dieser ein Krüglein voll Gold aus dem Felsenloch hervorbrachte. Von da an kam der Venediger nie mehr. Aber der Alpler hat weder Gold noch andere Schätze gefunden.
J. B. Stoop.

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Hat einer die gefährliche Platte passiert, so gelangt er in die Grotte, welche ca. 18 Meter lang und etwa 9 Meter breit ist. Am Ende der Grotte öffnet sich ein Gang, der so groß ist. daß ein Mann in gebückter Stellung vorwärtskommen kann. Die Steigung in einer Länge von etwa 18 Meter ist eine leichte; hat er diesen Gang passiert, so kommt er zu einer Tanne, die als Leiter dient und die erste Etage mit dem Anfange einer weiten Öffnung verbindet. Eine merkwürdige Erscheinung ist diese Tanne im geheimen, dunkeln Schacht. Es ist keine Rinde mehr an ihr; sie ist eingetrocknet wie eine Mumie, weiß von Farbe, die Aste kurz und vor Alter zugespitzt. Wie lange mag wohl dieses Skelett schon hier gestanden haben, und wer hat es und zu welchem Zwecke hiehergestellt?

Man kann ohne alle Mühe weitere 18 — 24 Meter in die Höhe steigen; dann aber geht die reine Luft aus, das Licht brennt nicht mehr; gern oder ungern muß der Besucher dieser Höhle den gefährlichen Rückweg antreten, ohne das wahre Goldloch, welches weiter oben sich befindet, gesehen, und ohne etwas von den geheimen Schätzen, die dort offen liegen sollen, erbeutet zu haben.

Auf der Alp Castelun war vor zirka 50 Jahren ein Hirt, der viele Sommer hindurch die Herden hütete. Weil der Mann hochblonde Haare trug, nannte man ihn den „roten Hirten". Alle Jahre um den St. Magnustag besuchte ihn ein Männchen, in gemeine Kleider gehüllt und mehrere kleine Säcke bei sich tragend. Sein Aufenthalt dauerte höchstens zwei Tage; dann ging es schwer beladen von dannen.

Der rote Hirt bemerkte, daß der kleine Mann unter der schlechten Kleidung eine solche von feinem Tuch trug, und er sann lange nach, was wohl dieser Fremdling mit sich fortnehme.

Als der Hirt einst die Herde wieder zur Alp trieb, trug er ein entlehntes „Speltive" (Fernrohr) bei sich in der Absicht, wenn der geheimnisvolle Fremdling wieder erscheine, zu erspähen, wohin er gehe. Der Kleine kam richtig wieder, und der Rote setzte sich auf einen Hügel und schaute durch sein Rohr. Jener schlug den Weg nach dem beschriebenen Loche ein und verschwand in der Grotte. Bald kam er schwer beladen in der Hütte an und nahm dankend Abschied; da zog es den Hirten mit unwiderstehlicher Gewalt, den Ort auch aufzusuchen. Vorerst besprengte er sich mit Weihwasser und betete um Schutz zum Himmel.

Er fand das Goldloch, durchschritt mutig die dunkeln Gänge, in der Hand eine dreifach gewundene brennende und geweihte Kerze haltend. Weit, weit im tiefen Berg drinnen fand er eine geräumige Höhle, aus der kein weiterer Gang sich öffnete. Hier fand der rote Hirt nichts Besonderes, nur gelbschimmernde, schwere Steine, mit denen er seine Säcke in Hosen und Rock füllte. In seiner Hütte verbarg er die Steine in einem Salzsäcklein im „Fickler" unter die Streue. An der Herbstalpfahrt nahm er die Steine in sein Bündel und zog mit der Herde zu Tal. Nachher ging er mit dem Funde zu einen, gebildeten Manne nach Wallenstadt. Mit ernster Miene und mit seltsamen Blicken schaute dieser den Noten an, ihn versichernd, daß es kostbare Steine seien, für welche er eine bedeutende Summe erhalten werde.

Die Steine wurden nach Zürich gesandt, und der rote Hirt ging an jenem Abende seelenvergnügt und etwas angesäuselt zu seiner Familie zurück, ihr die frohe Botschaft von zukünftigem Reichtum bringend. — Im kommenden Frühling zog der Hirt wieder auf die Alp Castelun; von Zürich war noch kein Bericht gekommen.

Am St. Magnustage erschien der Fremde wieder und machte den gewohnten Gang. Zurückgekehrt aus dem Goldloch, fragte er den Hirten mit barschen Worten, ob er etwa das Goldloch besucht und Steine weggenommen habe. Der Hirt bejahte die Frage aufrichtig. Der Fremde sagte dann mit aufgehobenem, drohendem Finger: Ich bin aus Venedig und kenne die Schätze dieser Erde; ich besitze auch die Kunst, in meiner Heimat mir mitzbeliebige Personen, und mögen sie auch noch so entfernt sein, aus der Welt zu schaffen. So gewiß du noch einmal die Grotte dort drüben besuchst, so gewiß bist du ein Kind des Todes." Sprach's und entfernte sich. Er kam nicht wieder, und auch der Hirt besuchte das Goldloch nie mehr; denn im folgenden Winter starb er. Was aus den nach Zürich gesandten Steinen geworden, darüber schweigt die Geschichte.
J. Natsch

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 347, S. 193ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, September 2005.