20. Der letzte Herr von Steinach
Wenn man von Arbon längs des Bodensees gegen Rorschach hinaufreist, erblickt man rechts auf dem Rande des Bergrückens, der sich gegen den See abdacht, eine gute halbe Stunde oberhalb Steinach, einen grauen Turm mit einem breiten Überbau, der wie ein Riesenhut auf dem weiten Mauerstocke sitzt. Es ist dies die Burg Steinach.
Der letzte Herr von Steinach lebte als rauher, gefühlloser Herrscher
einsam auf seiner Burg. Die Untertanen erschraken, wenn er aus seiner
Festung trat; denn ohne Erbarmen züchtigte er die, welche ihm nicht
gefielen oder seinen Befehlen ungehorsam waren, aufs härteste. Sein
Herz verschloß sich vollends, als eine bittere Fehde zwischen ihm
und dem Herrn von Wartensee ausbrach. Mit kaltem Blute verbrannte er die
Dörfer und Höfe, erschlug er die Leibeigenen und Knechte seines
Feindes und ihre Weiber und Kinder. Der Herr von Wartensee suchte umsonst
seinem Gegner beizukommen. Bei Tage war derselbe immer wohlbewehrt, wenn
er auf die Jagd ritt, und in der Nacht zog er die Fallbrücke auf,
schob er gewaltige Riegel vor das Burgtor und wachten blutgierige Hunde
hinter den Mauern. Ein Mädchen endlich, das bei dem Herrn von Steinach
hauste, wurde von dem Herrn von Wartensee gewonnen, daß es, wenn
sein Herr zur Mahlzeit an das Fenster sitze, das gegen Wartensee hinaufschaue,
ein weißes Tuch hinaushänge. Es geschah; und sogleich flog
ein Pfeil durch das Fenster und durchbohrte Rücken und Brust des
Zwingherrn mit solcher Gewalt, daß die Spitze im Tische stecken
blieb. Den Blutflecken auf dem Fußboden vermochte kein Wasser auszulöschen.
H. Herzog, Schweizersagen.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen,
Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 20, S. 13
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, April 2005.