375. Der Isistempel

Im Anfang des neunten Jahrhunderts umschlossen noch Sümpfe und Waldungen die akronisch und venetischen Wasser, und ein grosser Teil des Landes lag unbebaut und öde. Nur hie und da gewahrte man auf waldumkränzten Höhen finstere Burgen, von rauhen Steinen aufgeführt; wildschön und gebieterisch — Felsenmassen gleich — strotzte ihre Kraft, zu Schutz und Trutz gerüstet; das wahre Bild der Sitten und des Geistes jener Zeiten. — Rohe Leidenschaft, Jagd und wilde Kämpfe, gemischt mit Aberglauben, Frömmigkeit und einem offenen, biedern Sinn in Wort und Tat, schufen jenen sonderbaren Geist, der noch jetzt mit einer eigenen Anmut und Verwandtschaft zu uns herüberweht von den Grüften und Burgen unserer ritterlichen Väter. Heimisch und vertraut blicken wir zurück mit nordischer Phantasie in jene Perioden, wo sich im ersten Keim der Kampf für Licht, Freiheit und Recht enthüllte in den Taten unserer Ahnen.

An den Marken Rätiens hielt ein mächtiger Graf viel Land und Wälder in Zins und Dienstbarkeit. Die alten Pergamente hießen ihn Hunfried, Graf von Chur-Rätien und Herr zu Istria. Gewandt in Krieg und Staat, stand er in hoher Gunst bei seinem Kaiser, und sein Geschäft — wenn nicht der Kaiser ihn zu Hof berief — war das Weidwerk. So zog er oft durch sein Gebiet mit seinen Jagdgefährten, bald die Gemse, bald den wilden Eber jagend. Des Abends einst, im Begriffe, auf sein Schloß zurückzukehren, bestieg er einen Felsenvorsprung. Ein gedehnter Stoß in ein goldverziertes Horn, das der Graf an seiner Seite trug, gab das Zeichen, daß die Jagd beendet. Behaglich streckte sich der Graf ins weiche Moos, um die Gefährten zu erwarten. Neben ihm tanzte in geschäftigem Gemurmel ein klarer Quell durch sein steinig Bett dahin, und auf seinen Wellen zitterten die letzten Sonnenstrahlen, sorgenlos wiegten sich im Abendlicht die kleinen Sänger auf den grünen Zweigen; die Wolken lagen regungslos im fernen Westen, und in Rosenglut schwebten die grauen Alpengipfel Rätiens. Dem Sang der kleinen Waldbewohner und dem musikalischen Geplauder jener Quelle lauschte jetzt der Weidmann; mit sanften Harmonien umspielten ihre Töne seinen Sinn. Auf einmal war die Landschaft umgewandelt, und wie ans einem Nebelstor tauchte ein wildromantisches Tal auf.

In einer Rotunde von alt-ehrwürdigen Eichen stand auf einer sanften Anschwellung von Rasen ein Tempel, wie die Römer sie der Isis weihten. Wilde Rosen blühten um seine Stufen, und im Vordergrunde ruhte auf der obersten derselben eine Säulenfront und bildete den Eingang in das Innere des Tempelhauses. Bildsäulen schlossen um die beiden Seitenwände einen halben Kreis, in dessen Mitte, auf erhabenem Fußgestell, die Göttin Isis und neben ihr Ostris, der Geheimnisvolle, stand. In zierlich angebrachten Gruppen war die Göttin noch von andern Gottheiten umgeben, und in der Mitte dieses halben Zirkels ruhte auf glänzend weißen Stufen der Altar, auf dem die grünlich matte Opferflamme brannte. Tiefes Schweigen lag in den geheimnisvollen Hallen. — Mit ungewissen Schritten wollte sich der Graf dem Tempel nahen, als eine wilde Rose vor seine Füße auf den Boden fiel und aus ihr ein Schmetterling auf und in das Innere des Tempels flog. Wie vom Zauberstab getroffen, blieb der Christengraf am Eingange des Heidentempels stehen. Da widerhallte plötzlich von drei dem Donner gleichen Schlägen der heilige Hain. Feierliche Weisen klangen aus dem Innern des Tempels. Jetzt erschienen aus dem Hintergrunde mit langsam abgemessenen Schritten, ganz in Weiß gehüllt, zu beiden Seiten des Altars die Opferpriester, voran mit Palmenzweig und Uhrenbüschel zwei Oberpriester der Göttin Ceres. Auf den Stufen des Altars stand ein Priester. Auf seinem Scheitel teilte sich ein weißer Schleier, und in weiten Falten wallte ein weiß Gewand ihm von den Schultern zu den Füßen nieder. In noch tieferen Accorden tönte jetzt die Weise, und die Priester sangen:

„Hohe Isis! Nil zu dienen.
Steht bereit der Diener Schar;
Sollen Opferdüfte steigen.
Toll mit frischen Palmenzweigen
Grün sich schmücken dein Altar?"

Und während so die Priester sangen, bat in wilden Sprüngen und Gebärden ein Herodul das Bild der Göttin um Antwort. Plötzlich wies die Statue mit ausgestrecktem Arm nach der Säulenhalle, wo Graf Hunfried stand. Alles schwieg. Dreimal hob sie stolz ihr Haupt; es taten sich die Lippen auf, und eine hohle Stimme sprach:

„Rache treffe den Entweiher,
Der mit frevelhafter Hand
Heben will der Wahrheit Schleier."

Kaum war das Wort gesprochen, als zwei Tempeldiener den Grafen vor den Altar schleppten. Wie umstrickt war der sonst so krafterfüllte Arm des Kriegers, fruchtlos all sein Mühen. Erschlafft, verlassen lag er da, ein Opfer rachevoller Heidenpriester. In sonderbaren Krümmungen und Kreisen umtanzte ihn der Herodul, und grauenhafte Weisen sang der tiefe Chor der Opferpriester. Todverkündend schwebte über ihm das blanke Opfermesser in des Oberpriesteis Rechten, und auf der Tafel des Altars loderte in grünlich rotem Glanz die Opferflamme. Erschöpft sank jetzt der Herodul auf die Stufen des Altars, und plötzlich schwieg die grause Melodie. Dies war der Augenblick, in dem das Opfer seinen Todesstoß empfangen sollte.

Schon blinkte die breite Klinge in des Priesters Rechten, ein Blitz und ein Hall durchzuckte wie ein Wetterstrahl den Tempel; seine Grundfesten erbebten, und plötzlich füllten sich die Hallen von unaussprechlich lichtem Glänze. Der Graf war von seinen Banden befreit; auf den Boden hingestreckt lagen sie — die Götzendiener, zerschmettert war das Bild der Göttin — und in der Säulenhalle — o wundervoll Gesicht! — erblickte er auf goldbesäumten Rosenwolken, in festlich glänzendem Ornat, die Mitra auf dem glanzumströmten Haupte, ein goldenes Kreuz in feiner Rechten und den Hirtenstab in seiner linken Hand — jenen heiligen Mann, der das Licht des Christenglaubens in diese Täler brachte. Sein Antlitz widerstrahlte von heiliger Milde, und wie das leise Flüstern der Aeolsharfe ertönten jetzt die Worte: „Christ, dein Glaube ist's, der dich beschützte!" - Ein wunderbares Gefühl umfing den Grafen; zu den Füßen des Beschützers wollte er sich werfen und--------er erwachte. Traum war alles nur gewesen. Verwundert blickte er um sich, kaum konnte er sich fassen; doch er sah sich neben jener Quelle, bei der er kurz vorher sich hingelagert hatte. — Auf seine Burg zurückgekehrt, fand er einen Boten, der ihn schleunigst an den Kaiserhof berief. Bald verließ Graf Hunfried an der Spitze seiner Reisigen und Knappen das heimatliche Schloß. Lustig flatterte das Fähnlein, mit den bunten Wappenschildern Chur-Rätiens geziert; in kühler Morgenluft und in fröhlichem Geplauder lenkte der Zug dem wilden Paß des Gotthard zu. Im Tal der Linth nahm sie die alte Römerstraße auf. Da erinnerte sich der Graf seines sonderbaren Traumes, und wohlgelaunt erzählte er ihn seinen Reisegefährten. Mit dem Hang zu Deutungen von Träumen, der jener Zeit so eigentümlich eingeprägt, lauschten sie mit gespannter Neugier. Da fiel vom Kopfharnisch seines Streit-Hengstes eine Eisenschiene. Der Zug hielt an, und — wunderbarer Zufall — er hielt in jener Rotunde des Eichenhaines, und links auf sanfter Höhe stand in Wirklichkeit derselbe Iststempel, den der Graf kurz vorher im Traume gesehen. — Bald nachher erhob sich an derselben Stelle ein Christentempel unter dem Schütze des heiligen Gallus. Um den Tempel sammelte sich gläubig die Gemeine, und ihr Stifter war Graf Hunfried von Chur-Rätien. —

Noch jetzt steht da ein Dorf, früher Scandia, nun Schanis geheißen, gar anmutig im grünen Schatten und in dessen Mitte der alte Gallusturm.
(Bei J. Natsch)

 

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 375, S. 212ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.