269. Die Vorladung ins Tal Josaphat.
Ein Mann ging bei einem Galgen vorbei, an dem ein Verbrecher hing. Er rief hinauf: "Hättest du besser gelebt, so wärest du jetzt nicht da droben." Drauf fing der Angesprochene zu reden an: "Du wirst mir über diese Worte innert drei Tagen von heute an im Tale Josaphat Rechenschaft geben."
Den Mann überlief es eiskalt vor Furcht und Angst, und er ging gleich des andern Tages zum Herrn Pfarrer, um ihn in dieser Angelegenheit um Rat und Trost zu bitten. Dieser sprach: "Da ist schwer zu helfen; hast du aber ein verstorbenes Göttikind, dem du seiner Zeit etwa ein Geschenk gegeben, so gehe auf dessen Grab, rufe es dreimal mit seinem Namen und stelle die inständige Bitte an dasselbe, es soll für dich ins Tal Josaphat gehen und da dein Fürsprecher sein."
Der Mann hatte wirklich ein solches Göttikind, dem er einmal ein
Paar Schuhe geschenkt. Er ging daher auf dessen Grab und tat, wie ihm
geraten worden.
Das Göttikind gab aus dem Grabe Antwort und versprach, der Bitte
nachzukommen, bemerkte aber dazu, daß es damit das Göttigeschenk
teuer bezahlen müsse.
I. Natsch
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 269, S. 145
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.