332. Die Jungfrau im Schilztobel
In frühern Zeilen versammelten sich auf einem ebenen Platze oberhalb des Dörfchens Portels die jungen Leute an den Sonntagnachmittagen, um da zu tanzen und zu spielen. Noch jetzt heißt dieser Ort „Tanzplatz", Noch steht man den Stein mit dem eingegrabenen Sitze, auf welchem der Geiger seinen Platz hatte.
An einem Sonntagnachmittage war das junge Volk eben wieder an seiner lustigen Arbeit, als aus dem nahen Schilztobel eine Jungfrau in weissen Kleidern erschien, die sich den Tanzenden beigesellte. Ein junger Bursche hatte den Mut, sie zum Tanze aufzufordern, und bald flog das Paar im Kreise herum zum Erstaunen aller Zuschauer. Die Jungfrau dankte dem Jüngling und sprach: „Ich bin ein verzaubertes Mädchen und wäre nun erlöst, wenn du mir noch eine Bitte erfüllen könntest."
„Und die wäre?" fragte der Bursche.
„Komm mit nach dem Tobel," sagte sie,
Damit wendete sie sich, und er folgte ihr.
Vor einer Höhle hielten beide, und bald erschien eine Schlange. Von dieser sollte sich nun der Bursche umhalsen lassen, ohne dabei einen Seufzer hören zu lassen, wie stark ihn auch das Tier drücken würde. Sein Lohn sollte in einer Kiste Geldes bestehen.
Der Jüngling glaubte, die Probe bestehen zu können, und bald kroch die Otter an ihm herauf und wand sich um seinen Hals. Ihren ersten Druck überwand er geduldig; auch den zweiten verschmerzte er. Als ihm aber endlich unter Aufbietung aller Kräfte die Schlange die Kehle zusammenzuschnüren schien, öffnete er den Mund und seufzte. Sofort löste sich das Tier von seinem Nacken, und weinend verschwand die Jungfrau, den erschrockenen Burschen stehen lassend.
Noch ist sie verzaubert und wird es noch über hundert Jahre bleiben. Erst wenn das Kirschbäumchen in der Nähe des Tobels ein solches Alter erreicht hat, daß es als Baum gefällt werden kann, wird wieder die Gelegenheit zur Erlösung da sein. Das Menschenkind, das sein erstes Dasein in der aus dem Holze des gefällten Kirschbaumes gefertigten Wiege fristet, wird allein die Jungfrau erlösen können.
J. B. Stoop
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 332, S. 184f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, September 2005.