252. Das Männlein von Grünenfeld

Am Turm der Melser Kirche schlug es elf Uhr. Der Pfarrer, Dekan Fils, lag im ersten Schlummer. Da hörte er dreimal rufen, oben am Berg sei ein Sterbender, der nach ihm verlange. Schon kam auch der Mesner daher mit der Laterne; denn auch ihn hatte die Stimme gerufen. Allerdings war niemand da, der ihnen nähere Auskunft gegeben hätte; aber die beiden fanden es in ihrer Pflicht, den Weg anzutreten. Verwundert schauten ihnen schlaftrunkene Leute aus den Fenstern nach; denn niemand wußte, wem dieser nächtliche Gang gelten sollte.

In Grünenfeld war alles still, und keiner wollte den Besuch begehrt haben, da niemand krank sei und so eilig abzuscheiden gedenke. Schon wollten die beiden umkehren, da sie sich für getäuscht hielten. Nun aber streckte ein altes Männchen den Kopf zum Fenster heraus und sagte: "Umsonst sollt ihr den weiten und strengen Weg nicht gemacht haben. Ich, als der Älteste des Dörfchens, will mich bereitmachen, als ob meine Stunde gekommen sei. Niemand kann wissen, wie und wann er abgerufen wird." Er beichtete und empfing die Hostie in gläubiger Andacht.

Hierauf gingen Pfarrer und Mesner nach Mels zurück; aber kaum waren sie unten auf dem Feldwege angekommen, so lief ihnen ein Knabe nach, der ihnen meldete, der Alte sei eines sanften Todes gestorben.Dr. Henne-Am Rhyn, Deutsche Volkssage.

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Henne überliefert uns diese Sage in gebundener Rede, die wir von dieser Sammlung so viel wie möglich grundsätzlich ausschließen. Die Sage an und für sich ist Poesie und bedarf keiner weiteren Einkleidung. Die Dichter wollen glatte Verse haben und sind darum genötigt, auszuschmücken und abzustreifen. Der vorstehenden Sage fehlt wohl aus diesem Grunde ein wesentliches Moment. - Wer hat für den Abscheidenden Botendienste getan? Es war der heilige Joseph, zu dem man täglich ein Vater-Unser beten muss; dann wird man nicht eines "jähen Todes" aus dieser Welt abscheiden. Wenn keine menschliche Hilfe zur Stelle ist, springt der Heilige selbst ein. So wird die gleiche Sage in Vättis erzählt.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 252, S. 128f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.