92. Der Markenrücker
Christelis Franz war im Dorf im Wirtshaus gewesen und ging spät
in der Nacht heim, wobei er den Fußweg über die Hub wählte,
obschon er oft gehört hatte, daß es dort nicht geheuer sei.
Er blieb unbehelligt bis in die Nähe seines Hauses; da hörte
er durch das Dunkel den unheimlichen Ruf: "Wo soll ich ihn hintun?
Wo soll ich ihn hintun?" Franz meinte, man wolle Spaß mit ihm
machen und antwortete: "Du Narr, wo du ihn genommen hast!" Dem
Blitze gleich schoß es heran, und da stand ein schwarzer Mann vor
ihm, der eine weiße Zipfelkappe trug. Neben dem Manne stand ein
Markstein. Jetzt wußte der späte Wanderer, mit wem er es zu
tun hatte. "Alle guten Geister loben Gott, den Herrn," sprach
er, "und das erste und das letzte Wort sollen mein sein!" Dann
fragte er den Unbekannten, woher er komme; er wollte ihm sogar die Hand
reichen, griff aber immer nur in die Luft. Dann sagte jener, er habe zu
dieser Stunde einst einen Markstein verrückt und müsse darum
wandeln, bis jemand mitleidig den Stein wieder an den richtigen Ort setze.
Geschehe das heute, so sei er erlöst, wo nicht, so müsse er
weiter wandeln, bis aus einem in dieser Mitternacht hervorkeimenden Tannenschößling
eine Wiege entstehe; das Kind, das darin geschaukelt werde, könne
ihm wieder helfen, wenn es erwachsen sei. Der Geist hätte den Franz
zu Tode reden können, wenn dieser sich nicht das letzte Wort vorbehalten
halte. Die weiße Mütze zeigte an, daß der Arme von seiner
Pein befreit werden konnte; darum ging Franz heim, holte Pickel und Schaufel
und folgte dem Unheimlichen zu der bezeichneten Stelle. Kaum war der Stein
eingesetzt, so verschwand die Erscheinung, und aus den Lüften erscholl
Freudengeschrei. Freilich erkrankte Franz bald hernach; aber an sein Sterbebett
kam der Erlöste und reichte ihm die Hand, um ihn in das Land des
ewigen Friedens hinüberzuführen.
Nach Dr. Henne-Am Rhyn, Deutsche Volkssage
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 92, S. 43f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, April 2005.