228. Der Meineid
In dem vor mehr als 200 Jahren erbauten Gemeindehause lebten vorzeiten zwei liebliche Bergtöchter. Ihr Vater war Vorsteher der Korporation, und es wurden bei ihm manche Angelegenheiten besprochen und wichtigere Briefschaften aufbewahrt.
In der Nahe befanden sich verschiedene Alpen. An den mondhellen Nächten der Sommermonate trafen die Alpknechte der benachbarten Alpen zur "Stubete" ein und verbrachten hier die halben Nächte. Einst gelang es ihnen, dem Hauswirte eine wichtige Urkunde zu stehlen.
Gleich nachher begann ein Markenstreit zwischen den Bergbewohnern und den Alpbesitzern, und weil erstere keine Urkunde mehr besaßen und die letztern falsche Zeugen aufführten, bekamen die Alpbesitzer Recht.
Die Strafe folgte aber auf dem Fuße nach. Die beiden Küher verunglückten im gleichen Herbste auf der Jagd in der gleichen Alp, fanden aber im Tod keine Ruhe. Sie suchen in gewissen Nächten das Vieh der Alp gegen schauerliche Abgründe zu treiben und können nur hievon abgehalten werden, wenn der übliche Alpspruch getan wird.
Noch schlimmer erging es den andern falschen Zeugen. Zur Strafe für ihren Meineid sitzen sie droben in jener Ecke, wo sie einst den erschlichenen Sieg mit einem Trinkgelage gefeiert haben; dort halten sie feurige Becher in den Händen und verfluchen ihre Tat.
Fromme Fronfastenkinder sehen sie zu gewissen Zeiten.
L. Jäger.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 228, S. 113
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.