91. Das Muttergottesbild in der Kapelle zu Gasenzen

Zur Zeit der Reformation ging auch über unsere Gegend der Bildersturm; Altäre, Bilder, Fahnen, Reliquien wurden auf den Friedhöfen an Haufen geworfen und verbrannt. Dieses geschah im Gebiete der jetzigen Bezirke Werdenberg und Sargans in allen Kirchgemeinden mit Ausnahme von Wallenstadt.

In Grabs erschien auch ein Bäuerlein vom Grabserberg, das heimlich der alten Lehre treu geblieben war, auf dem Kirchenplatze, nicht um mitzuhelfen, sondern in der Absicht, das wundertätige Muttergottesbild zu retten, vor welchem es so manches Mal der Jungfrau Maria seine Wünsche und Bitten dargebracht hatte, wobei es öfter auch erhört worden war. Es glückte ihm, das Bild nach Hause zu bringen, wo es, so lange der Mann lebte, in hohen Ehren gehalten wurde.

Andere Zeiten, andere Sitten. Bei den Nachkommen dieses Männleins waltete nicht mehr der gleiche Sinn. Sie warfen das Bild als einen wertlosen Gegenstand ins Feuer. Dieses geschah dreimal nacheinander, und immer konnten sie es beinahe unbeschädigt in der Asche finden. Das bewog sie doch, den Gegenstand aufzubewahren, freilich nur im Holzschopfe.

Viele, viele Jahre gingen vorüber; da kam Winklers Franzli, ein Gasenzer, in genanntes Haus und sah das Bild. Seiner Bitte, es ihm zu überlassen, wurde gerne entsprochen. Das Muttergottesbild erhielt zuerst seinen Platz in einem "Heiligenhüsli" in den Erlen bei Gasenzen und befindet sich jetzt in der dortigen, im Jahre 1821 erbauten Kapelle.
Heinrich Hilty


Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 91, S. 42f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, April 2005.