494. Der Schloßgeist von Zuckenriet.
Noch im Anfange dieses Jahrhunderts war die bäuerliche Familie, welche die Räumlichkeiten des Rittersitzes eingenommen hatte, nicht die unbestrittene Besitzerin derselben; vielmehr übte der noch auf Erden schwebende Geist eines längst verstorbenen Löwen von Zuckenriet in der Nacht die unbedingteste Herrschaft im Schlosse aus. Zwar gelang es einem Mitgliede des Kapuzinerordens, den Geist durch Anwendung starker Mittel in seinem Wirkungskreise zu beschränken und in ein einziges Zimmer festzubannen. Aber jede Nacht mußte in diesem Gemache eine Kerze brennen. Geschah das, so enthielt sich der Geist nicht nur jeder Feindseligkeit oder jeder Störung nächtlicher Ruhe, sondern zeigte sich sogar im höchsten Grade wohlwollend gegen die Schloßbewohner. Die zahlreichen Knechte, welche der Schloßbesitzer wegen der ausgedehnten Güter halten mußte, fanden jeden Morgen, wenn das Fuhrwerken Tageswerk war, bei ihrem Aufstehen die Pferde schon gefüttert, die Wagen herausgezogen und bespannt, mit einem Worte, alles so hergerichtet, daß sie nur das Zeichen zur Abfahrt zu geben hatten.
C. G. J. Sailer, Chronik.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 494, S. 292
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