422. Burg Starkenstein.
Der letzte Zwingherr auf Schloß Starkenstein wurde von einem nahen Verwandten besucht, und es ward beschlossen, eine großartige Jagd nach der gegenüberliegenden Neuenalp zu unternehmen, wo es dazumal Gemsen, Rehe und Hirsche die Menge gab.
An einem heitern Sommermorgen ertönten die Hörner zur Jagd. Die Jäger rüsteten sich, und die Knechte fütterten die Rosse und die Hunde. Bald erschien der Schloßvogt, neben ihm der Vetter, hinter beiden ihre Begleiter. Die Jäger schwangen sich auf ihre Rosse und ritten im Galopp davon. Die Hunde wurden losgelassen, und bald verriet ihr Gebell, daß sie das Wild aufgespürt hatten. Der Vogt war mit einigen seiner Bedienten vorausgeritten bis in den sogenannten "Neuenalp Stoffel". Hier sah er die schönste Sennerin weit und breit, die mit silberheller Stimme den Kuhreihen sang und von Zeit zu Zeit in ihr Alphorn blies. Ihr blondes Haar, ihre rosigen Wangen, ihre schlanke Gestalt und ihr ungezwungenes Wesen erweckten in dem Vogt das Gelüste, sie zu stehlen und mit sich auf das Schloß zu bringen.
Er getraute sich aber nicht, es gleich offen zu tun, sondern dachte auf eine List. Der Vogt fragte, ob sie für ihn und seine Leute nicht ein Frühstück bereiten würde. Arglos ging sie mit den Gästen in die Hütte, wo der Bruder mit dem Ginbinden der Kühe beschäftigt war. Gin einfaches Essen war bald bereitet. Während man es fröhlich verzehrte, bat einer der Herren gar artig, es möchte der Bruder des Mädchens ihm doch einen Trunk frischen Wassers bringen. Wie dieser den Eimer bei der Quelle füllt, vernimmt er einen dumpfen Schrei, und zu seinem Schrecken wird er gewahr, wie man seine Schwester zu Pferde setzt und alsogleich in möglichster Hast den Berg hinuntergaloppiert. Da eilt er zu seinen Nachbarn, und augenblicklich ist eine Schar kecker Burschen mit Sensen, Gabeln und Arten den Räubern auf den Fersen. Holz und Steine stiegen auf die freche Rotte; die Pferde werden scheu und stürzen; nur der Vogt mit zwei Knappen kommt mit heiler Haut davon.
Allein wie ein Lauffeuer kam die Geschichte vom Mädchenraub ins Tal und dort von Haus zu Haus. Alles, was sich wehren konnte, bewaffnete sich und zog gegen die Burg, um sie niederzureißen und den Vogt seines Frevels wegen zu strafen.
Wie der Burgherr zum ersten Laufgraben kommt, fällt ihm ein Weib in die Zügel des Pferdes, und im gleichen Augenblicke wird er von einem Pfeile getroffen, daß er tot vom Rosse sinkt.
Nach der Sage hätte der Schütze in der dem Schloßplatz gegenüberliegenden Weid Iltishag gestanden und von dort sein Geschoß in des Frevlers Brust gejagt. Ein Meisterschuß! Denn die Entfernung muß wenigstens 400 bis 500 Schritte betragen haben. Die junge Sennerin sprang vom Pferde und umschlang ihre Mutter; denn diese war ihre Retterin gewesen. Der Schütze soll in einem Gebüsch auf den Vogt gelauert haben, ohne von dem Mädchen etwas zu wissen.
Nun galt es der Burg. Die Ritter und Diener, die drinnen waren, ergaben sich auf Gnade. Nachher wurde das Nest geplündert, und bald darauf verkündeten die lichterlohen Flammen dem Tale die Freiheit.
Seitdem solches geschehen, soll der Geist des Vogtes in Gestalt eines Pudels sein Geld bewachen. Eine goldene Kette halte das Ungeheuer gefangen, und wer es von seinen Banden erlöst, erhält die Verborgenen Kostbarkeiten. Oft nehme er auch Menschengestalt an; dann jammere er und verfluche seine Diener, die ihm zu so vielem Bösen geraten und geholfen hätten.
Vorübergehende Reisende soll er angeredet und ihnen Geld zugeworfen haben in der Hoffnung, man werde ihn befreien.
Mancher gelüstete schon nach jenem Schatze. Alles aber, was bisher versucht morden, half nichts; denn der Unglückselige soll in seinen letzten Zügen noch seine ganze Habe in die Luft geschworen haben, also daß sie nicht im tiefen Grunde liegt, sondern unsichtbar für gewöhnliche Menschenkinder hoch über dem Erdboden.
Nachts in der zwölften Stunde, vorzugsweise in der Christnacht, kommen auch die Knappen mit der schönen Lise den Neuenalp-Bach herabgefahren unter schrecklichem Windesgeheul im Buchen- und Tannengewipfel. Sobald sie an die Thur gelangen, beginnen sie ein entsetzliches Geschrei und setzen es fort durch die ganze Nacht bis zum ersten Hahnenruf.
So wollen's viele Väter und Großväter, als sie noch jung gewesen, bei stürmischem Wetter gehört haben. Schauderhaft soll das Gelärm zu ihren Ohren und Herzen gedrungen sein.
In neueren Zeiten scheint es, daß Gold und Silber in den Lüften verschwunden und die Burggeister zur ewigen Ruhe gekommen wären; denn heute wird an jener Stelle nur noch das Rauschen der Wasser und das Sausen und Brausen der Winde gehört.
Durch Fritz Grob.
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Bei den Trümmern der Burg Starkenstein macht zu gewissen Zeiten der große Schloßhund immer noch die Runde, es ist der tyrannische Schloßherr, der ein Bauernmädchen entführte und der dafür in der Fensternische seiner Burg von einem Pfeil durchbohrt wurde. Seinen Leichnam haben die erzürnten Bauern in die Thur geworfen.
H. Brunner.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 422, S. 248
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