231. Der Taminageist
In der Taminaschlucht habe ein Kobolt gewohnt. Diese Sage verdankt ihre
Entstehung folgender Erzählung eines Gemsjägers: Er sei eines
Abends beim Zunachten im Begriffe gewesen, auf dem Heu in einer Scheune
des Gutes Gigerwald zu übernachten, als in der Tiefe ein gellender,
Mark und Bein durchdringender Schrei ausgestoßen worden. Einen Augenblick,
und der gleiche Schrei habe sich schon näher und dann wieder nach
einem Augenblick hart an der Scheune wiederholt. Jetzt sei dem Jäger
nicht mehr wohl zu Mute gewesen. Er habe nach dem Stutzer gegriffen, um
fortzugehen. Als er die Leiter heruntergestiegen, sei er vom Berggeist
bei den Haaren ergriffen und mit Blitzesschnelligkeit durch die Lüfte
davongetragen worden. Er habe in dieser Not und Gefahr die drei heiligsten
Namen angerufen, worauf der Kobolt ihn fallen lassen. Als er endlich den
Weg nach Vättis gefunden, sei er von dem Geiste wieder geneckt und
irregeführt worden. Bald sei er hinuntergekommen an die Tamina, bald
hinauf bis an die Felswände und so im Zickzack auf und ab die ganze
Nacht bis am Morgen, wo er körperlich und geistig erschöpft
und triefend vor Angstschweiß ankam. Dieser Taminageist habe vielfältig
auch noch andern Spuk getrieben, namentlich im Gigerwald, so daß
auf diesem Gute bis in die neuere Zeit niemand nachts zu schlafen wagte.
"Oberländer Anzeiger."
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 231, S. 114f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.