254. Tannhuser und der Ziegenhirt.
Ein Knabe hütete auf dem Tiergarten die Ziegen. Da erblickte er an einem Felsen eine Türe, welche er öffnete. Innert derselben gewahrte er einen herrlichen Saal und in demselben einen großen, runden Tisch, um den mehrere Herren saßen und schliefen. Einer davon hatte einen langen, schneeweißen Bart, der um den Tisch herum-gewachsen war. Die Männer fragten den Knaben, wie weit die Zeit vorgeschritten sei. Der Geißbub aber machte sich so schnell als möglich aus dem Staube und konnte später diese Türe nie mehr finden.
Was die geheimnisvolle Musik auf dem Tiergarten anbelangt, so hat der
Schreiber dieses selbst die eigentümliche Wahrnehmung gemacht, daß
das Anschlagen eines leichten Windes an den zerklüfteten Felsen auf
der Westseite des Hügels in Verbindung etwa mit dem fernen Rauschen
der Wasserfälle vom Meilen- oder Sarbache eine liebliche und deutlich
vernehmbare Musik wie von einer Orgel oder Äolsharfe zu stände
bringen,
übrigens haben früher auch gar oft Zigeunerbanden unter den
überhängenden Felsen am Fuße des Hügels gelagert
und ganze Nächte hindurch Musik und Tanz gehalten. Dieselben trieben
bisweilen den Mutwillen so weit, daß sie vom nahen Gebüsche
Zweige von Sträuchern in dünnen Kuchenteig herabbogen, diesen
daran buken und hernach in die Höhe schnellen und an den Sträuchern
hängen ließen zum Ärger der von diesem Gesindel allerwege
gebrandschatzten Bevölkerung der Umgegend.
I. Natsch.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 254, S. 134f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.