236. Der Tanzboden in der Alp Tardona.
Zu hinterst in dein Kalfeisentale befindet sich die Alp Zarduna, die für über 290 Stück Vieh Sommerung bietet. In dieser Alp ist ein großer, ebener Platz, Tanzboden genannt.
Auf diesem Platze hat noch nie ein Stück Vieh sein Nachtlager gesucht; denn da versammelt der Teufel alle Freitage um Mitternacht, sowie in den Nächten der Fronfasten, die ihm Zugehörenden. Da wird dann gegessen, getrunken und getanzt, bis in Vättis die Betglocke läutet. Dann auf einmal ist alles verschwunden.
In der nahen Alphütte übernachtete im Spätherbst ein Gemsjäger. Um Mitternacht erwachte er und hörte eine wunderschöne Tanzmusik. Unerschrocken verließ er sein Nachtlager und begab sich vor die Hüttentüre. Welch ein Anblick! In einer kleinen Entfernung drehten sich die Anwesenden beiderlei Geschlechts nach den wundervollen Tanzmelodien, welche der in der Mitte des Kreises sitzende Künstler seinem Instrumente entlockte. Ein hübsches Mädchen kam auf den Jäger zu und forderte ihn zum Tanze auf. Er willigte für drei Tänze ein; hierauf begaben sich beide an einen der frisch aufgeschlagenen Wirtstische, wo Speisen und Getränke in Fülle vorhanden waren. Nach dem Mahle nahm er Abschied, weil er noch einige Zeit schlafen müsse. Die schöne Tänzerin steckte ihm noch eine Wurst in die Rocktasche. Jetzt gewahrte er in einer kleinen Entfernung seine Braut, mit der er sich nächstens vermählen wollte. "Auch du bist bei diesen Verworfenen zu treffen!" waren die einzigen Worte, welche über seine Lippen kamen. Er kehrte ihr den Rücken und sah nicht, wie sie durch ein herzzerreißendes Weinen ihren Schmerz kund tat.
Nach schlaflos durchbrachter Nacht trat er am Morgen den Heimweg an. Die Wurst, die er in der Tasche trug, hatte sich übernacht in einen Katzenschwanz verwandelt.
Der Jäger fand keine Ruhe mehr in seinem Bergdorfe; er zog in die weite Welt hinaus und trat in Frankreich in ein Kloster.
An einem hohen Festtage waren viele Patres als Ehrenprediger abwesend;
nur der Abt und einige ältere Priester waren im Kloster zurückgeblieben.
Abends spät erschien ein Bote, der mitteilte, im nahen Frauenkloster
sei eine Nonne am Sterben und wünsche mit den Tröstungen der
Kirche versehen zu werden. Rasch entschlossen unternahm der Klostervorsteher,
unser Vättner, selbst den Gang. Nach der heiligen Handlung nahm er
die auf dem Tischchen stehende Kerze und zündete der Sterbenden ins
Angesicht. Was sah er da! Es war seine ehemalige Braut, für deren
Seelenheil er die vielen Jahre unablässig gebetet hatte. Sie hatte
ihn auch erkannt und erklärte ihm, daß sie sich damals dem
Teufel verschrieben habe, um von ihm Geld zu erhalten und den Geliebten
dadurch glücklich zu machen. Sie verschied hierauf, und auch er folgte
ihr nach drei Tagen.
L. Jäger.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 236, S. 117f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.