307. Das Ungetüm
Mutwillige Hirten ließen es sich einmal beikommen, ein Schaf zu taufen. Kaum war die heilige Handlung vollzogen, so verwandelte es sich in ein Ungetüm, das schon in der nächsten Nacht über die Herde herfiel und eines der schönsten Schafe verzehrte. Am nächsten Abend stellten ihm die Hirten einen großen Eimer voll der schönsten Milch vor die Hütte. Diese trank es und begnügte sich in der kommenden Nacht mit einem minderwertigen Schafe. Hierauf stellten die Sennen einen Eimer voll Rahm hin; so jede Nacht, und von nun an blieb die Herde verschont.
Nach Jahren waren andere Sennen in der Hütte, die ihre Sahne besser verwenden wollten; sie füllten den Eimer mit Schotten und belegten diesen mit einer dünnen Rahmschicht. Diese wurde weggeholt; der Schotten aber blieb zurück, und sieben der schönsten Kühe waren über eine Felswand hinuntergesprengt worden. In der nächsten Nacht stellten sie wieder Schotten hinaus mit etwas mehr Rahm. Da fehlte am Morgen noch eine Kuh. Hierauf fuhr man mit dem Vieh zu Tal und ließ die Alp unbenutzt.
Man zog aber einen Stier groß; der bekam zehn Jahre lang "ganze
Milch" und zwar zuletzt von zehn guten Kühen, Dann wurde eine
Klosterfrau gebeten, daß sie den Stier auf jene Alp führte.
Das Ungetüm stürzte zunächst auf die Klosterfrau los und
tötete sie. Dann gerieten die beiden Tiere aneinander. Der Kampf
war ein verzweifelter und dauerte lange. Endlich erlag der Stier und wurde
von dem Ungetüm in Fetzen zerrissen. Doch dieses hatte sich in seiner
Wut so ermüdet, daß es nach kurzer Zeit ebenfalls verendete.
Seither konnte die Alp wieder benutzt weiden.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen,
Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 307, S. 171f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, August 2005.