194. Der Valeishund
Zwischen Vilters und Wangs hatte lange Jahre ein Markenstreit betreffend Weid und Wald im Valeistobel gewaltet.
Im Jahre 1459 endlich sprachen beide Parteien den Grafen Wilhelm von Werdenberg-Sargans, ihren Landesherrn, und den Abt Friedrich von Pfäfers um Vermittlung an, welche sich dann unter Zuzug ihrer Amtleute und vieler Zeugen persönlich auf die Stöße oder streitigen Lokalitäten begaben.
Die beteiligten Parteien gelobten mit Mund und Hand, den schiedsrichterlichen
Spruch zu allen Treuen halten zu wollen.
Mit dem Urteilsspruche waren aber beide Parteien nicht zufrieden. Die
Vilterser hatten auf dem Kamm mehr Boden angesprochen, als ihnen zuerkannt
worden; die Wangser hingegen hatten behauptet, der Bach bilde die Grenze,
erhielten aber durch den Richterspruch nur einen in der Höhe des
Tobels liegenden Teil des Waldes auf der linken Seite des Valeisbaches,
dagegen aber auch den Weideplatz auf dem Alpkamm zu Caffia oder Mugg.
Diesen Weideplatz estimierten die Wangser jedoch wenig, weil dort gar
spärlich Gras wächst, und sie halten denselben auch nie ernstlich
als Eigentum angesprochen. Sie nennen ihn daher, wie die Vilierser, ganz
offenherzig "den gestohlenen Boden".
Man will wissen, daß die Vilterser in der Kuppel ihres Kirchturmes Urkunden gefunden haben, welche sie verheimlicht hätten, weil diese für sie ungünstig lauteten.
Jene Person, welche das meiste zur unrichtigen Entscheidung dieses Streitfalles beigetragen habe, müsse nun in gewissen Nächten als großer, schwarzer Hund mit einem glühenden Auge in Mitte der Stirne und mit einem Bunde Schlüssel am Halse vom Valeisloche heraus über Grünenfeld, Schrabach, Gariet, Wangs, Gaffizal, Fehrbach und Talis zum alten Rathaus und auf den Friedhof zu Mels wandeln. Viele Leute wollen den Valeishund bald an der einen, bald an der andern Stelle dieses uralten Weges gesehen haben. Nachtwächter Alexander Buel von Wangs habe dem Valeishunde öfters das Gatter geöffnet, welches auf der Rosen vor einigen Jahren noch angebracht war. Wenn aber das Gatter geschlossen war, sprang der, Hund mit leichter Mühe über dasselbe hinweg.
Das alte Rathaus stand südöstlich ob dein jetzigen, welches damals Markt- und Tanzlaube hieß.
Die Magd eines benachbarten Herrenhauses wollte einst in später Nacht Feuer anmachen, fand aber durchaus kein Feuerzeug, Weil sie auf der Ratsstube Licht erblickte, ging sie hinüber, um sich solches zu verschaffen.
Um den schwerfälligen, großen Ratstisch saßen dort in
geisterhafter Stille und Steifheit mehrere ihr völlig unbekannte
Herren, von denen einer ihr winkte, das Licht anzündete und sagte:
"Es ist gut, daß du nicht aus "Gwunder" hieherkamst,
sonst wäre es dir schlecht ergangen." Hierauf eilte die Magd
so schnell wie möglich nach Hause und vernahm dann, als sie das Erlebte
erzählte, daß hier jene Richter, welche den Urteilsspruch über
das Markenwesen in Valeis erlassen hatten, nach ihrem Ableben schon oft
in den Stunden der Mitternacht zu Gericht gesessen seien.
I. Natsch.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 194, S. 90f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.