255. Der Venetianer und der Weißtanner.
In der Zeit der mailändischen Kriege bewirtete einstmals ein Venetianer
einen jungen Weißtanner aufs köstlichste. Als sie mit Essen
und Trinken fertig waren, fragte er seinen Gast, ob er denn das alte Kräutermännchen
im grauen Rock gar nicht mehr kenne, das in seines Vaters Hause stets
Nachtlager und Speise erhalten und einen braunen Krug getragen habe. Er
selbst sei das Männlein gewesen. Nur noch zweimal werde er den Krug
füllen und es dann nicht mehr vonnöten haben. Da nun der Venetianer
merkte, daß durch diese Erinnerung an die Heimat in dem armen Jungen
das Heimweh rege ward, brachte er einen Bergspiegel herbei und zeigte
ihm zuguterletzt seine Eltern uud Geschwister daheim zu Weißtannen,
wie sie gerade in der Stube zum "Chli z'Obet" versammelt waren.
Der Anblick besänftigte gar wunderbar das Heimweh.
H. Herzog, Schweizersagen
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 255, S. 134f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juli 2005.