210. Des "wilden Mannlis" Dankbarkeit
Aus der Feuscha, einem Berggute zuvorderst auf der wohl 500 Meter hohen Krachenwand, in deren Mitte sich eine unzugängliche, große Höhle befindet, lebte vor Zeiten ein Familienpaar, das von den "wilden Mannli", welche in obgenannter Höhle wohnten, häufig besucht wurde. Die Wilden wußten zu ihrer Höhle einen geheimen Weg, Sie waren schwindelfrei; denn die Kinder bekamen in den ersten Jahren als Nahrung nur Gemsenmilch, welche das beste Mittel gegen Schwindel ist.
In einer stürmischen Herbstnacht wurde an der Haustüre geklopft.
Ein "wildes Mannli" begehrte für seine Frau Hilfe, die
ihm auch gewährt wurde. Auf einem gänzlich unbekannten Pfade
gelangten sie nach kurzer Zeit in die Höhle. Mit Tagesanbruch verabschiedete
sich die Frau und erhielt als Belohnung eine Schürze voll Kohlen,
die sie unwillig annahm, Anf dem Wege warf sie das wertlose Geschenk weg;
nur ein einziges Stück nahm sie mit. Jetzt hörte sie in der
Ferne rufen: "Je mehr du verwirfst, je minder du hast!" Sie
drehte sich um und sah das "Mannli", das den Zeigefinger erhoben
hatte und ihr einen seltsamen Blick zuwarf. Als sie zu Hause angekommen
war, hatte sich die vermeintliche Kohle in ein Goldstück verwandelt.
Schnell machten sich beide auf, um den weggeworfenen Schatz zu suchen.
Sie kamen aber zu spät; denn das "wilde Mannli" war ihnen
zuvorgekommen und hatte die Kohlen aufgelesen und wieder in seine Höhle
mitgenommen. Die beiden Gatten sahen den ehemaligen Gast noch oft bei
ihrem Hause vorbeigehen. Eingekehrt ist er dort niemals wieder.
L. Jäger.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 210, S. 102
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.