87. Die Zwerge von Forsteck
Unweit Salez liegen auf einem aussichtreichen Fels die Trümmer des alten Schlosses Forsteck, von dem nur ein Turm mit gewaltigem Mauerwerk noch vorhanden ist. Einst gehörte er den Herren von Hohen-Sax, deren Stammburg beim nahen Pfarrdorfe Sax gelegen war. Sollte einer seiner Besitzer aus dem Leben scheiden, so löste sich am Berge ein mächtiger Fels und rollte, alles niederschlagend, mit fürchterlichem Gepolter in den Vorhof der Burg.
Als einmal ein junger Freiherr von Sax im nahen Walde jagte, bemerkte
er plötzlich eine Höhle, in welche er neugierig eintrat. Nachdem
er mehrere hundert Schritte in dem weiten, düstern Gange zurückgelegt
hatte, sah er vor sich eine feste eiserne Türe, die er nach kurzem
Bedenken vorsichtig öffnete. Blendender Glanz traf sein Auge; er
blickte in eine ungeheure, weite Halle, deren Wände von reinstem
Golde waren. Hunderte von kleinen Zwerglein mit langen Barten und braunen
Röcken waren eifrigst damit beschäftigt, Stücke Goldes
von den Wänden loszulösen, in Körben nach der Mitte der
Halle zu tragen und dort in einen mächtigen Schmelzofen zu schütten,
aus welchem das geschmolzene Metall in schmale Rinnen abfloß. Wohl
eine Viertelstunde hatte der junge Freiherr den seltsamen Bergleuten zugeschaut;
da mußte er plötzlich niesen. Sogleich gerieten die Zwerge
in die lebhafteste Unruhe, und drohend liefen sie durcheinander. Ein Donnerschlag
erschütterte die Halle, und unwiderstehlich fühlte sich der
Jüngling fortgerissen, durch Felsenklüfte geschleudert und in
ein Wasser geworfen. Ein spärlicher Lichtschimmer fiel von oben in
die schauerliche Tiefe, in der er sich befand. Aber eh' er sich weiter
besinnen mochte, fuhr ein Wassereimer hernieder. Unwillkürlich setzte
er sich darauf und wurde langsam, aber stetig emporgehoben. Bald befand
er sich im Hofe des Schlosses Forsteck, neben dem tiefen Sodbrunnen, gegenüber
der alten Küchenmagd, die ihn unbewußt heraufgehaspelt hatte
und die sich nun vor Erstaunen nicht zu fassen wußte. Seitdem hat
nie wieder jemand die wunderbare Goldhöhle gesehen; aber oft hörte
man im Juli und August in der Gegend um Forsteck helle Töne, ähnlich
wie Klingeln der Pferdeglöckchen beim Schlittenfahren, die man das
Bergklingeln nannte. Nach den einen sollen sie entstehen, wenn die Bergzwerglein
das Gold von den Wänden abmeißeln und auf den Boden niederfallen
lassen, nach andern, wenn sie in ihren Gemächern unter der Oberfläche
Musik machen.
H. Herzog, Schweizersagen
Der Eingang der Sage ist merkwürdig. Das Schloß steht wirklich
auf den Trümmern eines vorhistorischen Bergsturzes.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni,
St. Gallen 1903, Nr. 87, S. 40f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, April 2005.