312. Der Zwingnagel
Man war in der Flumser Alp "Fursch" eines Nachmittags mit dem Vieh und den Sennereigeratschaften aus dem obern auf den untern Saß herabgezogen. Der rohe Senn hatte absichtlich seinen Melkstuhl oben zurückgelassen, um den gutmütigen, aber furchtsamen "Baschi" oder Küherbuben damit zu ärgern und zu ängstigen.
Gegen Zunachten befahl er diesem, den Melkstuhl sogleich zu holen. Ohne Widerrede, aber mit bangem Herzen machte sich "Baschi" auf den Weg und kam in dunkler Nacht zur Sennhütte des obern Säßes, in welcher er sich auf die "Tril" oder auf die Schlafstätte der Alpknechte zur Ruhe legte, weil er es weder für notwendig noch für ratsam hielt, sogleich zurückzukehren. Es war totenstill in und um die öde, verlassene Hütte.
Da plötzlich vernimmt er eine lustige Musik im Freien und ein Geräusch und Getrampel wie von einem ländlichen Tanze. Hierauf pochte es heftig an die Hüttentüre, und gleichzeitig traten mehrere unheimliche Gestalten, von denen einige noch Geigen in der Hand hielten, in die Hütte herein und trafen Vorkehrungen, als ob sie sennen wollten.
Bald aber rief einer dieser gespenstigen Sennen: "Es ist nit suber in dr Hüttä; i gschmöggä Minschäbluot!" Der "Baschi" hatte sich schon vorher im Bettheu versteckt; er zitterte wie ein Espenlaub und schwitzte vor Angst, blieb aber unterdessen mäuschenstill. Der Geist hob nochmals an: "Där, wo uf der Tril lit, söll ahä chu und mit Wohrheit sägä, was er do ztuä heb; es ward em dinn nüt Leids gschieh!" Nun erhob sich der "Baschi" von seinem Lager und stotterte heraus.- "Ich bi nu an armä Zwingnagel, und üsärä Senn hat mi gnötiget, no in dr Nacht vu do si Mälchstuohl z' holä."
Hierauf sagte der Geist ganz freundlich zu ihm, weil er die Wahrheit gesprochen habe, so könne er nun eine Kunst lernen, welche er sich nur wünsche. Ermutigt gab der "Baschi" den Wunsch zu erkennen, so schön geigen zu lernen, wie er es soeben gehört habe. Alsobald erhielt er eine prächtige, neue Geige, auf welcher er unter Anleitung und Begleitung der andern Spielleute bis nach Mitternacht sich so hurtig üben mußte, daß ihm dabei fast schwindlig wurde. Da hieß es plötzlich: "Halt!" Und der ganze Spuk war verschwunden. Der "Baschi" befand sich wieder allein; aber die Geige war ihm geblieben.
In der Frühe des Morgens nahm er sie unter den Arm, hängte den Melkstuhl an die Schulter und kam dann gerade zum "Stofel" zurück, als die Alpknechte mit Melken beginnen wollten.
Der Senn rief ihm entgegen: "Chunnst indli ämol, du glampätä Hösi!" Um diesen zu befänftigen, fing der "Baschi" zu geigen an. Das setzte aber keinen geringen Spektakel ab. Kühe und Kälber, Schafe und Schweine, alles, was Leben hatte, begann zu tanzen wie rasend und tanzte fort, solange die Geige ertönte.
Erst als der Senn kaum mehr zu schnaufen vermochte und mit dringendem Bitten Ruhe verlangte, hörte der "Baschi" auf und eröffnete, wie er diese Kunst übernacht von einigen Männern in der Obersaßhütle erlernt und die Geige als Geschenk erhalten habe.
In der Meinung, gewiß auch noch etwas Rechtes erlernen und erwerben
zu können, eilte dann der Senn am nächsten Abend ebenfalls in
die Obersäßhütte hinauf, kehrte aber nimmer zurück,
und als man ihn aufsuchte, fand man dessen Körper in viele Stücke
zerrissen und an den "Gepsenlatten" aufgehängt.
J. Natsch.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen,
Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 312, S. 175f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, August 2005.