Elisabet Sklarek, Ungarische Volksmärchen,
Leipzig 1901.
Geleitwort.
Dem Ersuchen, der nachstehenden Übersetzung ausgewählter ungarischer
Märchen ein Geleitwort mitzugeben, folge ich gern. Denn ich sehe
in ihr in der That eine wertvolle Bereicherung der deutschen Litteratur,
in die damit ein gut Teil des reichen ungarischen Volkspoesieschatzes
einverleibt wird. Es ist nicht der erste Versuch nach dieser Richtung,
überhaupt nicht der erste Versuch, die ungarische Märchenpoesie
den grossen Kulturnationen zugänglich zu machen. Noch unter dem unmittelbaren
Eindruck der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm gab Georg
v. Gaal 1822 einen Band ungarischer Märchen in deutscher Sprache
heraus, an denen W. Grimm "den echten, oft trefflichen Grund"
rühmte. Umfangreicher war die Sammlung des Grafen Mailáth,
die in zweiter Auflage 1837 in zwei Bänden bei Cotta in Stuttgart
erschien. Doch waren diese Märchen wie die der Gaal'schen Sammlung
von vornherein zum Zwecke der Übersetzung und Veröffentlichung
aus dem Volksmunde aufgezeichnet worden und deshalb nicht frei von litterarischer
Komposition geblieben. Erst die zu Ehren des Neubegründers der ungarischen
Nationallitteratur, Karl Kisfaludy, gegründete Gesellschaft nahm
auch die Sammlung und Sichtung der ungarischen Volkspoesie in ihr Arbeitsgebiet
auf und schuf dadurch auch für die Märchenforschung eine wissenschaftliche,
zuverlässige Grundlage. Aus der ersten, von Joh. Erdélyi besorgten
Sammlung der Kisfaludy-Gesellschaft übersetzte Georg Stier (1850,
Berlin) "Ungarische Märchen und Sagen". Derselbe Autor
veröffentlichte sodann, als aus dem Nachlass Georg v. Gaals noch
mehr als ein halbes Hundert ungarischer Märchen herausgegeben worden
war, eine deutsche Übersetzung auch dieser Nachlese: Ungarische Volksmärchen,
nach der aus Georg v. Gaals Nachlass herausgegebenen Urschrift übersetzt.
(Pesth, 1857.)
Seither, also seit mehr als 40 Jahren, ist keine deutsche Übersetzung
ungarischer Märchen mehr erschienen, und doch kann man sagen, dass
in diesen 40 Jahren erst der ungarische Märchenschatz gehoben worden
ist. Der beste Kenner der ungarischen Märchen, L. Katona, verzeichnet
in einem Aufsatz der "Ethnographia" (1894), dem wir diese Angaben
entnehmen, seit 1860 mehr als 10 Originalsammlungen, darunter die zweite
der Kisfaludygesellschaft (unter Leitung des feinsinnigen Dichters und
Ästhetikers Paul Gyulai), die durch echten Volkston ausgezeichneten
von L. Arany und J. Kriza, und endlich die durch ihren Reichtum und philologisch
genaue Aufzeichnung hervorragende der Sprachzeitschrift "Magyar nyelvör."
Aus diesem reichen Schatze hat nun Frl. E. Sklarek geschöpft, und
der Vorzug ihrer Übersetzung ungarischer Märchen vor den Publikationen
ihrer Vorgänger liegt ebenso in der ihr gebotenen Möglichkeit
übersichtlicher Auswahl wie in der unbedingten Zuverlässigkeit
der von ihr benützten Quellen. Das stellt die E. Sklareksche Auswahl
gleichwertig neben die 1889 erschienenen Folk-Tales of the Magyars von
Kropf und Jones, die hauptsächlich aus der ersten Sammlung der Kisfaludy-Gesellschaft
(besorgt von J. Erdélyi) und aus der Krizaschen Sammlung schöpfte,
und weit über die französische Übersetzung ungarischer
Märchen von Michel Klimo, (Contes et légendes de Hongrie,
Paris 1898), die meist überarbeiteten und abgeleiteten Quellen gefolgt
ist.
Den deutschen Leser wird schon in den hier ausgewählten ungarischen
Märchen manches heimisch anmuten. Noch mehr würde ein Durchblättern
der Originalsammlungen ihm zeigen, wie viele Züge, ja ganze Stücke
dem deutschen und ungarischen Märchenschatz gemeinsam sind. In unserem
Märchen vom "Glückes Glück" klingt der "Treue
Johannes" durch, wir begegnen dem "Eisenhans", "Tischlein
deck dich", dem "Klugen Hirtenbüblein", dem "Märchen
vom Machandelboom", dem "Aschenputtel", dem "Märchen
von der dunkeln Welt", dem "Tapfern Schneiderlein", den
vielen lustigen Geschichten vom Wolf und Fuchs, ja sogar mancher Schildbürgererzählung
auch in den ungarischen Märchen. Das besagt aber nicht, dass aus
den modernen deutschen Märchensammlungen manche Stücke in den
ungarischen Märchenschatz aufgenommen worden sind, sondern es bezeugt
den gemeinsamen Litteraturstrom, der vom frühen Mittelalter an bis
zur Neuzeit durch Europa gegangen ist und aus dem die ungarische volkstümliche
Poesie ebenso geschöpft hat wie die deutsche. Der Versuch, den ungarischen
Märchenschatz in grossen Zügen zu kennzeichnen, wird also vor
allem in dem Nachweis zu bestehen haben, aus welchen Verästelungen
jenes Litteraturstromes diese Märchen in den volkstümlichen
Poesiebesitz der Ungarn geflossen sind. Dabei wird sich von selbst ergeben,
inwieweit die Einformung und ausgestaltende Einfügung dieser von
fremdher zugekommenen Erzählungsstoffe in den volkstümlichen
Poesiebesitz, in der Vorliebe für besondere Motive ebenso wie in
der Technik der Erzählung, spezifisch ungarisch volkstümlichen
Kunstgeschmack bezeugt.
Eingeborne, uralte ungarische Märchen, die mythisch-poetische Gebilde
der heidnischen Zeit noch widerspiegelten - wie sie sich wenigstens in
groben Umrissen noch jetzt bei den stammverwandten Finnen und Lappen finden
- enthält der ungarische Märchenschatz nicht mehr. Sogar die
doch das Volksgemüt gewiss tief bewegenden Erinnerungen aus der Zeit
der Wanderung und Landnahme sind verklungen, nur mittelalterliche Chroniken
verzeichnen den Stoff dieser Einwanderungssagen und bezeugen zugleich,
dass sie eine Zeitlang lebender Besitz der Volkspoesie gewesen sind. Die
durch König Stephan den Heiligen (997-1038) begonnene und durch Ladislaus
I. (1077-1095) vollendete Christianisierung der Ungarn hat mit dem Heidentum
auch zugleich die heidnischnationale Poesie ausgerottet und an ihre Stelle
die christlich-antiken Kulturschöpfungen gesetzt.
Es wird darum nicht auffallen, wenn wir sehen, dass eine an Zahl reiche,
vielleicht die grösste Gruppe der ungarischen Märchen ihre Quelle
in der erbaulichen lateinischen Litteratur des Mittelalters hat, die auf
verschiedenen Wegen zum geistigen Volkseigentum geworden ist. Die auffallend
zahlreichen schönen Legenden von Christus, Maria und den Aposteln
mögen durch die Predigt, durch wandernde Scholaren, und nicht zum
geringsten Teil durch die Schule ins Volk gedrungen sein.
Aber auch direkte Übernahme aus litterarischen Quellen lässt
sich nachweisen. Um in langer Kerkerhaft sich die Zeit zu vertreiben,
übersetzte Johann Haller 1678-1682 mehrere lateinische Unterhaltungsbücher
ins Ungarische und gab sein Werk 1695 unter dem Titel "Hármas
História" [Geschichte in 3 Teilen] heraus. Der mittlere Teil,
dem der Übersetzer den Titel "Buch der Beispiele" gab,
ist eine nicht ganz wörtliche Übersetzung der unter dem Namen
"Gesta Romanorum" bekannten mittelalterlichen Sammlung von Erzählungen
und Schwänken. Diese "Hármas História" ist
bis zum heutigen Tage noch das beliebteste Volksbuch unter den Szeklern
Siebenbürgens und die zerlesenen Exemplare werden eifersüchtig
als kostbares Familiengut aufbewahrt. Aus dem "Buch der Beispiele"
nun sind mehrere Erzählungen zu Volksmärchen umgewandelt und
weiter verbreitet worden, nicht ohne dass dabei die oft nüchterne
Lehrerzählung besondere volkstümliche Farbe und Lebensfülle
erhalten hätte. So führt das auch in dieser Sammlung übersetzte
Märchen "Der Pilger und der Engel Gottes" die farblosere
Vorlage aus, indem es in frischer, nationaler Gehässigkeit den geizigen
Bauern, der die unbequemen Gäste in den Schweinekober steckt, zu
einem Sachsen macht. Lehrreich für die Art der volkstümlichen
Einformung und Ausgestaltung ist ein anderes Beispiel. In der "Hármas
História" wird erzählt, wie ihrer drei sich auf den Weg
machen, zur "Wegzehrung aber haben sie nur ein Weissbrötchen.
Wenn sie es teilen, hat keiner etwas davon, deshalb beschliessen sie,
sich schlafen zu legen und wer das Schönste träumt, dem solle
das Brötchen sein. Während die anderen schlafen, erhebt sich
der, der den guten Vorschlag gemacht hatte, vom Lager und isst das Brötchen
auf. Am Morgen erzählen sie ihre Träume. Dem einen hat geträumt,
er stünde an der Himmelsleiter, auf der die Engel auf und abstiegen;
sie hätten auch seine Seele mit hinaufgeführt, und da hätte
sie im Himmel die Heilige Dreieinigkeit und was sonst das Menschenauge
nicht erblickt geschaut. Dem anderen hatten im Traume die Teufel die Seele
aus dem Leibe gerissen und sie in die Hölle gestossen. Der dritte
aber erzählt, ihm habe der Engel den einen Kameraden mitten unter
den Freuden des Himmels gezeigt, den anderen in der Hölle, bei Brot
und Wein, und da er so erfahren habe, dass er seine Kameraden nicht mehr
sehen werde, habe er, während sie schliefen, das Weissbrot gegessen.
Zum ungarischen Märchen umgewandelt, hat nun diese Erzählung
folgende Ausgestaltung erhalten. Ein Zigeuner [im ungarischen wie im rumänischen
Märchen der Typus des verschlagenen und doch meist betrogenen Burschen]
und sein ungarischer Gevatter gehen fischen. Sie fischen den ganzen Tag,
ohne etwas zu fangen. Abends suchen sie im Gebüsch dürres Holz,
um sich, bevor sie sich schlafen legen, wenigstens ein wenig zu wärmen.
Wie sie so dürres Holz; suchen, rauscht etwas im Gebüsch, und
sie erwischen ein junges Ferkel. Sie zünden ein gutes Feuer an und
rösten das Ferkel gut braun. Da spricht der Ungar: "Kamerad!
wenn wir diesen Bissen von einem Ferkel zu zweit essen, gluckst es keinem
von uns beiden im Magen. Schlechter, als wenn wir nichts gegessen hätten!
Ich meine, es ist klüger, nur einer isst es und wird wenigstens satt
davon, dass nicht beide hungern müssen. Wir legen uns nieder und
schlafen, und wenn wir aufwachen, soll der das Ferkel haben, der am schönsten
geträumt hat." Der Zigeuner ist es zufrieden. Er denkt sich,
na, dem dummen Ungarn will ich schon was erzählen, wie es nicht einmal
sein Grossvater gehört hat. Im nächsten Augenblick ist er schon
eingeschlafen, der Ungar aber macht sich über das Ferkel her, isst
es bis auf den letzten Bissen auf und legt sich nun beruhigt nieder. Am
anderen Morgen frühe erwacht der Zigeuner vor Hunger und weckt auch
den Ungarn auf. "Also, was hast du geträumt, Gevatter?"
"Joi, ich habe etwas so Schönes geträumt; ich habe im Traum
eine grosse Leiter vom Himmel bis zur Erde herabreichen gesehen, und die
Engel gingen darauf auf und nieder. Auch mich haben sie so lange gerufen,
bis ich in den Himmel hinaufstieg, und dort habe ich mit dem Herrn Jesus
Christus das Nachtmahl gegessen." "Eben sah ich dich,"
fällt der Ungar ein, "wie du hinaufkrochst und dich zum Nachtmahl
niedersetztest. Da dachte ich, wem es so gut geht, der kommt nicht wieder
zurück, und habe deshalb das Ferkel allein aufgegessen." Umsonst
jammert nun der Zigeuner, warum habe er ihm nicht wenigstens ein Stückchen
vom Ohr übrig gelassen.
Eine zweite Gruppe von ungarischen Märchen wurzelt in der anderthalbhundertjährigen
Herrschaft der Türken in Ungarn (seit der Schlacht von Mohács
1526). Wer die Inhaltsregesten der von Ignácz Kúnos [1887
und 1889] gesammelten osmanisch-türkischen Märchen durchblättert,
findet verwandte Züge und Ausführungen, die nicht aus einer
erfabelten türkisch- magyarischen Urverwandtschaft, sondern aus diesem
langdauernden, gemeinsamen Kulturleben zu erklären sind. Die ganze
persisch-türkische Märchenwelt der Feen, der guten und bösen
Geister, ist damals in den ungarischen Märchenschatz eingezogen.
Die guten Geister, die peri, allerdings, ebenso wie die bösen, die
dev, die sich in Könige, Prinzessinnen, Tiere umwandeln, um die Märchenhelden
zu schützen oder zu schädigen, sind im ungarischen Märchen
meist zu gewöhnlichen Menschen und Tieren geworden, aber ihr Wohnort
in Zaubergärten und Wäldern, an Quellen und Brunnen lässt
noch ihre Feennatur erkenne0n. Reisen in die weite Ferne, um wundersame
Früchte und Kostbarkeiten, Heilkräuter und Lebenselexir heimzuholen,
die Erwerbung der schönsten Königstochter zur Braut, Auszug
auf schreckhafte Abenteuer, dabei auch etwas leichtere Ehestandsgeschichten,
wie der Gatte zu betrügen oder ein missliebiger Anbeter zu prellen
sei, sind die immer wiederkehrenden Themen dieser Märchen. Da bittet
die Tochter ihren Vater, ihr von der Reise "sprechende Trauben, lachende
Äpfel, singende Pfirsiche" mitzubringen, und endlich, nachdem
ein Königssohn in Gestalt eines Schweines ihrem Vater gegeholfen,
sinkt sie im Zaubergarten jenem an die Brust. "Reiss mich ab,"
sprechen die Trauben, die Äpfel lachen von den Bäumen herab,
und durch den ganzen Garten geht ein Singen und Klingen, vom singenden
Pfirsichbaum, her. In den entsprechenden türkischen Märchen
von den singenden Früchten, von lachenden und weinenden Äpfeln,
von sprechenden Orangen sind die Zaubergärten von Drachen und Löwen
bewacht, und nur mit Hilfe der guten und bösen Geister gelingt es
dem Märchenhelden in sie einzudringen. Von den hier aufgenommenen
und übersetzten Märchen gehört etwa "Schön Ilonka"
(No. 5), das gerade mit türkischen Varianten nahe verwandt ist, und
"Feenprinzessin Goldhaar" (No. 11) in diese Gruppe.
Eine dritte Gruppe bilden die Märchen rumänischen und slowakischen
Ursprungs, die in dieser Vermittlung teils in den klassisch-antiken Fabel-
und Novellenschatz, teils in altslavische Heldendichtung zurückreichen.
In keines Volkes volkstümlicher Litteratur, - auch in der italienischen
und griechischen nicht - ist der reiche Schatz der aus altmythischen Quellen
geflossenen spätantiken Novellendichtung so treu und so unmittelbar
von mythischer Anschauung durchsetzt erhalten, als in den rumänischen
Märchen. Wo sich Parallelen zwischen diesen und den Märchen
der mitwohnenden Bevölkerung finden, tragen die rumänischen
überall den alten mythisch gesättigten Inhalt, dessen Zusammenhänge
mit der antiken Volksdichtung oft greifbar hervortreten, während
die verwandten Märchen der mitwohnenden Völker diese Züge
verflüchtigen, in dieser Abschwächung die Entlehnung und Umformung
bezeugend. So auch in all den ungarischen Märchen, die in wechselnden
Gestaltungen das "Amor und Psyche"-Motiv wiederholen, oder von
den in Bäume verwandelten oder aus Bäumen erwachsenen Märchenhelden
erzählen, von den Irrfahrten der Helden bei Sonne, Mond und Abendstern,
von der Verwandlung in Tiere und Erlösung durch liebende Treue und
Ausdauer. Der Weg, auf dem diese Märchen in die ungarische Volkspoesie
gekommen sind, ist leicht aufzufinden. Die Hauptgelegenheit zum Märchenerzählen
im ungarischen Volksleben ist neben der Spinnstube die Zeit des Maisschälens.
Wenn im Spätherbst in der geräumigen Vorhalle des Edelhofes
oder in der Scheune die Berge von Maiskolben aufgehäuft sind, versammeln
sich, von Nachbar zu Nachbar eingeladen, an den langen Abenden Gesinde
und helfende Freunde zum Abschälen des Mais. Da spinnt sich ein Märchen
an das andere. Berühmte Märchenerzähler werden von weither
eingeladen und besonders bewirtet. Da wechselt denn in den national gemischten
Gegenden leicht die Sprache der Unterhaltung. Wenn dem ungarischen Nachbar
der Faden ausgegangen ist, setzt der rumänische oder slowakische
Arbeiter ein - auch in den siebenbürgisch-deutschen Dörfern
sind beim Maisschälen die rumänischen Helfer die beliebtesten
Märchenerzähler - und so überfliegt das Märchen die
nationale und sprachliche Grenze. Als Beispiel diene unter den hier übersetzten
Märchen No. 4 "Die Schlangenhaut" und No. 12 "Der
goldbärtige Mann". Das Märchen von "Halb-Schlange-halb-Mensch"
hat noch trotz der stilistischen Angleichung an die Märchen türkisch-persischen
Ursprunges viel vom antik-mythischen Grundstock beibehalten; aber wie
auffallend schlichter und reiner tritt doch dieser Grundstock in den rumänischen
Varianten des Märchens hervor, in denen der mythische Untergrund,
die Geburt des Sonnensohnes, unter der märchenhaften Umkleidung noch
deutlich hervorschimmert. Dem "goldbärtigen Mann" entspricht
im Rumänischen der "Blumenkönig", der schon in dem
Namen seinen Ursprung aus den antiken Baumseelenmärchen verrät.
Auf slowakischen Ursprung möchte ich die weitausgesponnenen Kampf-
und Schlachtenmärchen zurückführen, namentlich die, in
denen der weissagende Rat dem Helden die Hilfe bringt. Doch mag hier auch
viel eigener nationaler Einschlag dazwischen sein. Jedenfalls stehen sie
dem kühnen Reitersinn des Ungarn am nächsten.
Eine vierte und fünfte Gruppe endlich bilden die Märchen der
"verabschiedeten Soldaten" und die im Lande selbst entstandenen
Streitmärchen, zu denen die Reibungen der zusammenwohnenden Nationalitäten
den Stoff geben. Der verabschiedete Soldat, zumal in früheren Jahrzehnten,
als sich die Dienstpflicht der zum Militär "Eingefangenen"
auf 8 bis 10 Jahr erstreckte, ist der Bramarbas in der dörflichen
Gesellschaft. Er erzählt von seinen weiten Reisen, den Städten
und Völkern, die er gesehen, von Schlachten, die er mitgemacht hat,
vor allem von den Ehrungen, die ihm selbst um seiner Tapferkeit willen
angethan worden sind; wie er am Zaun der Hofburg sein Pferd angebunden,
der König ihn mit herzlichem Handschlag willkommen geheissen, die
Königin ihm sofort den Schnaps warm gemacht und ihm aus der Kammer
von der dicksten Speckseite ein Stück abgeschnitten und mit weichem
Weissbrot vorgesetzt habe; wie sie sich beide eindringlich nach seinen
Erlebnissen und zumal nach seinen Absichten für die Zukunft erkundigt
hätten, ob er nun in seinem Heimatdorfe sich wieder niederlassen,
ob er heiraten werde, und wen, oder ob er auf seine alten Tage bei ihnen
in der Hofburg bleiben wolle. Aus den Kasernen und Feldlagern bringt der
"verabschiedete Soldat" auch einen Haufen anderer Erzählungen
mit, oft kaleidoskopartig zusammengesetzt aus verschiedenen Splittern,
darunter Trümmer der "Volksbücher" aber auch recht
moderne Räubergeschichten. Kennzeichnend dabei ist für alle
durch den Mund des "verabschiedeten Soldaten" gehenden, vielfach
schwankartigen Märchen, dass er selbst in ihnen als deus ex machina
auftritt, den entscheidenden Rat giebt, das Problem löst oder den
lachenden Philosophen gegenüber der Thorheit der Welt darstellt.
[Vgl. den Schluss zu Nr. 31.] Wo es nur angeht, ist er selbst der vielgewandte
Held des Märchens. So gelangt er einmal in die Hölle und befreit
dort 99 Seelen. Er verwandelt sie in Lämmer und treibt sie vor sich
her der Himmelsthüre zu. Vor der Thüre will Sankt Peter die
Lämmer hereinlassen, ihn aber nicht. Es gelingt ihm jedoch zwischen
den Lämmern durchzuschlüpfen, und nun lässt er sich auf
keine Weise mehr hinaustreiben. Schliesslich verwandelt Gott seinen Leib
in Staub und lässt diesen vom Wind hinauswehen, seine Seele aber
stellt er als Schildwacht vor die Himmelsthür, mit dem Befehl, ohne
Auftrag Sankt Peters niemand hineinzulassen. Der Soldat kümmert sich
jedoch nichts darum und fragt jede anlangende Seele zuerst: "Bist
du Soldat gewesen?" Und wenn sie ja sagt, lässt er sie sofort
hinein, nur die übrigen meldet er bei Sankt Petrus an. Deshalb jagt
man ihn auch von hier fort, und seither spaziert er im Paradies herum,
da man mit ihm nicht zum Strich kommen kann.
Die ungarischen "Nationalitätenmärchen", wie man die
letzte Gruppe nennen könnte, suchen, oft mit treffend scharfem Witz,
die als typisch aufgefassten Charaktereigenschaften der einzelnen im Lande
zusammenwohnenden Völker im Spiel und Gegenspiel eines freierfundenen,
gewöhnlich an alte Legenden angelehnten Geschehnisses zu entwickeln.
So ist der Ungar der feurige Hitzkopf, der gleich mit dem Schwerte dreinschlagen
will; der Szekler wird im Gegensatz zu ihm schwerfällig, schwer von
Begriff, dabei aber gutmütig und friedfertig geschildert. Der Deutsche
ist der Vorsichtige, umständliche Paragraphenmensch; mit seinen schweren
Stiefeln ist er bei der Austeilung der Sprachen zu spät gekommen
und hat deshalb aus dem Sprachtopf Gottes nur den zusammengescharrten
Rest erhalten. Der Rumäne ist weich und feig, voll Devotion gegen
den "hohen Herrn", der Slowake immer hungrig. Der Zigeuner der
Bruder Lustig, der gern die anderen betrügen möchte, aber dabei
immer der Betrogene bleibt. Eine solche Gegenüberstellung der drei
Nationalitäten enthält No. 40 "Die drei Erzengel",
ein anderer Schwank hebt die Charakterunterschiede noch schärfer
hervor. Als unser Herr Christus am Kreuze hing, traten die Nationen in
Siebenbürgen zusammen, um zu beraten, wie sie den Heiland befreien
könnten. Der Ungar zog das Schwert: "Drauf los! Wir wollen ihn
schon von den römischen Soldaten heraushauen." "Das nicht",
sagte der bedächtige Deutsche, "wir wollen lieber eine Bittschrift
an den Herrn Landpfleger einreichen, vielleicht giebt er uns ihn frei."
Der Rumäne meinte: "Warten wir die Nacht ab, bis die römischen
Wachen eingeschlafen sind, dann stehlen wir ihn vom Kreuze." Der
Zigeuner schmunzelte: "Das habe ich schon gethan, während ihr
hier miteinander berietet."
Die Märchen wandern leichtfüssig von Land zu Land. Von Indien
nach Europa, aus den Mittelmeerländern nach dem Norden ist ihnen
der Weg nicht zu lang geworden. Wo sie aber Wurzel fassen, da erwerben
sie sich völliges Heimatsrecht. Das erkennt man auch an den ungarischen
Märchen. Wie der mittelalterliche Maler hier Christus auf der Hochzeit
zu Kana in Husarenuniform mit Kalpak und Säbel darstellt, so haben
auch die Märchen, wes Ursprungs sie immer sind, völlig das Kostüm
und auch das innere Leben des ungarischen Volkes angenommen. Die weite
Ebene, die Berge, die Flüsse tragen heimischen Namen, kein Zug im
Märchen wird so hervorgehoben als gutmütige Hilfsbereitschaft,
Gastfreundschaft, entschlossene Kühnheit. Bei einem armen, ungarischen
Hirten auf der Schafhirtentanya kehren Christus und Petrus ein und segnen
ihn mit Herdenreichtum, da er ihnen gastfreundlich das einzige Lamm geschlachtet
und vorgesetzt hat, das ihm und nicht seinem Herrn gehört. In einer
Heideschenke des Alfölds erlebten Christus und Petrus die vielerzählte
Geschichte, dass zuerst Petrus am Ende der Lagerstatt lag und hier von
den Husaren, die sich Zigeunermusik aufspielen liessen, geknufft wurde,
darauf sich an das andere Ende legte und hier nun von den Husaren, da
sie der Meinung waren, der andere habe jetzt genug ausgehalten, noch einmal
seinen Teil erhielt. Der alte Schwank von den drei Brüdern, die nichts
anderes sagen konnten als "wir drei Brüder", "um einen
Käs", "das ist recht", ist hier drei armen, verhungerten
Slowaken passiert, die nach Ungarn kommen, wo, wie sie gehört haben,
die Zäune aus Würsten geflochten sind, und die zu ihrem Unglück
nur diese drei Sätze ungarisch gelernt haben.
Es sind hier als Beispiele für die energische Apperception der fremden
Erzählungsstoffe in die eigene Lebensumgebung mit Absicht Märchen
heiteren Inhaltes ausgewählt worden. Die Freude am harmlosen Spass
kennzeichnet die ungarischen Märchen, im Gegensatz zur ungarischen
Volkslyrik und -Epik, die durchwegs tiefe Leidenschaft in schwermütige
Färbung taucht, Entsagung, unerfüllbare Sehnsucht klingt in
den ungarischen Volksliedern durch, glückliche Lösung, heitere
Aussicht nach schreckhafter Schürzung des Knotens in den Märchen.
Es liegt dies zum Teil schon im Wesen des Märchens selbst. Sage,
Ballade, Volkslied lassen eindrucksvolle, also meist schreckhafte, schmerzliche
Erlebnisse des Volkslebens und Einzelgemütes künstlerisch ausklingen,
das Märchen dagegen ist freies Spiel der Phantasie; sein einziger
Zweck ist, zu unterhalten und zu ergötzen, und darum wird in ihm
von vornherein ein glücklicher oder zumindestens heiterer Ausgang
verlangt und vorausgesetzt. Aber hier kommt noch ein landschaftlicher
Gegensatz hinzu. Balladen, Volkslieder sind Kinder der unabsehbaren, das
Volksgemüt schwer bedrückenden Puszta, die Märchen haben
ihre eigentliche Heimat in den freundlichen Berggeländen, namentlich
in den Szeklerthälern der Csík und Háromszék.
Hier haben vor allem die Tiermärchen ihre alte satirische Spitze
abgestreift und sind, vermehrt durch zahlreiche tierlautmalende Originalschöpfungen,
zu wahren Kabinetstückchen volkstümlichen Humors geworden. In
geistvoller poetischer Bearbeitung hat Paul Gyulai daraus edle Perlen
der ungarischen Kunstdichtung geschliffen.
Dieser sorglos heitere Ton der ungarischen Märchen zeigt sich auch
in der Erzähltechnik. Echte Volksmärchen, wie sie gegenwärtig
phonographisch genau allenthalben aufgenommen werden, haben für gewöhnlich
eine gewisse stilistische Härte und Unbeholfenheit. Hauptsätze
werden polysynthetisch aneinander gereiht; nebensächliches wird ausgelassen,
das ganze Interesse drängt dem Ausgang der Geschichte zu. Das ungarische
Märchen ist, auch wo es aus der Volksmasse und nicht nur aus dem
Munde berufsmässiger Märchenerzähler geschöpft wird,
wortreicher. Ein gewisser volltönender oratorischer Schwung, der
der ungarischen Sprache überhaupt eigen ist, dazu die Kunst, verwickelte
Verhältnisse und Beziehungen in langausgesponnener Erzählung
zu klären und zu lösen, macht sich geltend. Daher sind auch
die Eingangsformeln und Schlusswendungen breit angelegt und beziehungsreich.
Das deutsche Märchen beginnt gewöhnlich nur "Es war einmal",
das rumänische bedeutungsvoller: "Es war einmal ... und wenn's
nicht gewesen wäre, so hätte ich's auch nicht erzählt,
also es war einmal ..."; das ungarische Märchen schiebt einen
bei sogenannten Hochzeitspredigten üblichen alten Schulmeisterwitz
ein, der als Textgrundlage gern den Apostel Stoika (oft vorkommender rumänischer
Familienname) "vom Stalleck bis zum siebenten Dachsparren" citiert,
und verlegt den Schauplatz nicht nur in die weite Ferne, jenseits des
Operenzmeeres (Ocean), über 7 mal 7 Reiche hinaus (meist in Märchen
des Alföldes, der Tiefebne), "jenseits des Glasberges",
"über 7 mal 7 Eisbergen" (in Szeklermärchen), sondern
bestimmt ihn genauer "auf der zusammengefallenen Seite eines zusammengefallenen
Ofens", "wo das Ferkel mit dem kurzen Schwanz den Berg durchgräbt",
oder "wo auf dem kahlen Suche- nicht-und Hund-frage-nicht-danach-Berge
sieben schlanke Weidenbäume stehen". Denselben neckischen Humor
zeigen auch die formelhaften Schlüsse der ungarischen Märchen.
Wenn nach1 langen Verwicklungen und unüberwindbar scheinenden Hindernissen
endlich die beiden Liebenden sich gefunden haben, dann klingt wohl das
Märchen in getragenem Pathos aus: "Hier bleibe ich bei dir,
Grabscheit, Hacke und die grosse Glocke (Totenglocke) nur sollen mich
von dir scheiden"; der biedere Szekler aber schliesst das Märchen,
als handgreiflichen Beweis der Realität des Märchenhelden: "Morgen
werden sie bei euch zu Gaste sein", oder auch vorsichtiger: "Soweit
geht mein Märchen, vielleicht ist's auch wahr gewesen". Nur
wo es sich um eine tolle Geschichte handelt, die kaum "dem Gehege
der Zähne entflohn" um ihrer inneren Unhaltbarkeit willen in
der Luft zu zerstieben droht, muss zum Schluss die Aufforderung erhoben
werden: "Die Mär ist aus, lauf, fang sie ein!"
Nicht die Gedankenwelt der ungarischen Märchen, die nicht wesentlich
verschieden ist von der anderer Märchen, verleiht ihnen ihren eigenen
Reiz, sondern das heimische Gewand, der Pulsschlag des innern Lebens,
die Einformung und Einfühlung in das Gemütsleben des ungarischen
Volkes. Sie bilden deshalb eine in sich abgeschlossene Gruppe des internationalen
Märchenschatzes. Auch in der Übersetzung tritt dieser eigene
Charakter deutlich wahrnehmbar hervor, und die hier gebotene Auswahl wird
deshalb eine willkommene Gabe sein, ebenso der vergleichenden Märchenforschung,
der hier bedeutende neue Typen und Varianten zur Verfügung gestellt
werden, wie dem grösseren Publikum, das durch sie einen unmittelbaren
Einblick in ungarisches Volksleben und Volksfühlen erhält.
Gross-Schenk, Oktober 1901.
A. Schullerus.
Quelle: Elisabet Sklarek, Ungarische Volksmärchen, Leipzig 1901