Das geizige Männlein

Außerhalb des Dorfes Flintsbach, direkt unter den weißen Felsen der Rachelwand, stand einmal ein kleines Häuschen. Darinnen wohnte ein armer Mann mit Weib und Kinderschar. Einer der Buben war ein Sonntagskind. Dieser war immer fröhlich und freundlich und zu vielerlei Dingen geschickt.

Einmal sollte das Büblein noch in der Nacht eine Botschaft auf den Petersberg bringen. Weil es so finster war, nahm der Bub eine Laterne mit. Das Lichtlein leuchtete aber nicht weit zwischen den Bäumen des Bergwaldes. Darum verlief er sich. Auf einmal merkte er, daß er ja mitten im Hof der damals halb verfallenen Rachelburg sich befand.

In dem uralten Gemäuer sah der Bub eine offenstehende Türe. Weil er von Geburt ein Glückskind war, wie er selbst meinte, und Furcht nicht kannte, und weil ihn zudem die Neugier drängte, durchschritt er den Eingang, gespannt, was sich dahinter finden würde.

Er befand sich in einem ziemlich finsteren, langen Gang, von dem er zunächst nicht erkennen konnte, wo er enden würde, denn seine Laterne gab ja nur wenig Helligkeit von sich. Der Bub schritt also beherzt voran und kam schließlich durch eine weitere Türe in ein Zimmer. Darinnen war nichts als ein einfacher Tisch und davor ein Stuhl. Doch! Auf dem Tisch war noch etwas! Eine Schüssel mit dampfender Suppe stand darauf und daneben lag ein hölzerner Löffel, wie man ihn überall in Gebrauch hatte. Frisch machte sich das Büblein daran, die Suppe auszulöffeln, denn vom weiten Weg war es hungrig geworden, und da kam ihm die Mahlzeit grad zurecht. Die Suppe schmeckte ihm gar nicht schlecht, denn Hunger ist immer der beste Koch.

Die Schüssel war noch nicht ganz geleert, als sich die Tür öffnete, durch die vier Männer hereinschritten. Auf ihren Schultern trugen sie einen einfachen Sarg. Den stellten sie auf den Tisch, gerade vor die Suppenschüssel und die Laterne. Still und schweigsam, wie sie gekommen waren, verließen die Vier den ungastlichen Raum wieder.

Erst schlürfte der Bub noch den Rest der Suppe aus der Schüssel, dann machte er sich daran, den Sarg aufzumachen. Das ist ihm auch bald gelungen. Im Sarg lag ein kleines Männlein. Das war stocksteif und fühlte sich eiskalt an. Der Bub hob es heraus, um es aufzuwärmen, lehnte es gegen die Laterne, die noch immer brannte und mattes Licht verbreitete. Auch hauchte er das Männlein an und rieb ihm die dürren Hände. Hernach wußte er nicht mehr zu sagen, wie lange er sich so abgemüht hatte. Jedenfalls hatte er Erfolg, denn das Männlein wachte auf und fing an zu reden. Es sagte zum Buben: "Nimm deine Laterne und leuchte mir! Geh mit! Du mußt mir helfen, zwei Säcke heraufzutragen".

Die beiden stiegen eine Treppe in einen tiefen Keller hinunter und fanden dort zwei schwere Säcke, die sie gemeinsam heraufschleppten. Jeder Sack hatte ein solches Gewicht, daß das Büblein allein ihn kaum von der Stelle zu bewegen vermocht hätte. Aber das Männlein schien ungeheure Kraft zu haben. Beim Tragen stießen sie des öfteren mit den Säcken gegen die Mauer. Das klang jedesmal, wie wenn lauter Gold und Silber drin gewesen wäre. Oben angekommen, befahl das Männlein: "Jetzt teile den Schatz in zwei genau gleiche Haufen! Wenn du es aber nicht fertigbringst, muß ich dir den Hals umdrehen".

Gleich machte sich der Bub an die Arbeit. Dabei fielen ihm schier die Augen aus dem Kopf, denn so ein Gefunkel von Kostbarkeiten hätte er sich nicht einmal träumen lassen. Zwischen allerlei Geräten und Geschmeide waren auch Silber- und Goldmünzen haufenweise. Gewissenhaft legte der Bub die Stücke so vor sich hin, daß es zwei genau gleiche Häufen gab. Doch zuletzt blieb noch ein einziger Kreuzer übrig. Da nahm er einen scharfen Stein und schlug die Münze mitten auseinander.

Stumm hatte ihm das Männlein die ganze Zeit zugeschaut. Jetzt sprach es: "Gut hast du es gemacht! Nun nimmst du die eine Hälfte von dem Kreuzer und schenkst ihn armen Leuten! Du wirst schon welche kennen. Die andere Hälfte des Geldstücks darfst du behalten".

Das Büblein ging heim und tat so, wie ihm aufgetragen worden war. Von da an hat das Glück den Buben nie im Stich gelassen seiner Lebtag lang.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 108