Die Sage vom Grafen von Kirnstein, der seine Burg nicht mehr finden konnte

Es mag zweihundertfünfzig Jahre her sein, daß eines Abends ein Holzknecht auf dem schmalen Steig den Wildbarren herab dem Inntal zuging. Im Bergwald stieg rasch die Dunkelheit hinauf. Unten über den Altwassern des Inns wob dünner Nebel seine weißlichen Schleier, und ringsum war es ruhig und friedlich. Da hörte der Holzer hinter sich auf dem Hang das Rollen von Wagenrädern, obwohl es hier oben keinen einzigen Fahrweg gab, wo Pferdewagen hätten dahinrattern können. Die Peitsche eines Fuhrmanns knallte einige Male und auch Hundegebell erscholl von da oben herab. Das alles kam dem Wanderer recht verwunderlich vor. Er schaute sich um, hielt im Gehen inne, aber er konnte nichts besonderes sehen.

So ging er kopfschüttelnd weiter, nachdem die Geräusche auf einmal verstummt waren. Es dauerte nicht lange, da schien es ihm, als hörte er nun das Knirschen der Wagenräder, das Ächzen des Wagens, das Peitschenknallen und das Hundegebell schon wieder. Diesmal aber war es nicht mehr hinter ihm, sondern vor ihm. Er machte immer längere Schritte, um möglichst bald aus dem unheimlichen Wald herauszukommen, denn das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, was da sein Gehör zu narren schien.

Bald erreichte er im Wald eine Lichtung. Er erschrak, daß ihm die Gänsehaut über den Buckel lief, denn auf der freien Wiese stand eine vornehme Kutsche, der sechs rabenschwarze Pferde vorgespannt waren. Aus dem Fahrzeug stieg ein Mann gerade aus. Der trug einen weiten, dunklen Mantel und auf dem Kopf hatte er das Barett eines Grafen. Kaum war er auf die Erde gesprungen, kläffte um ihn herum eine Meute edler Jagdhunde. Der Holzknecht duckte sich hinter ein Gebüsch, damit er ja nicht entdeckt würde.

Die sonderbare Gestalt, zweifellos ein Graf, ging nun kreuz und quer über die Wiese, schaute suchend bald hierhin, bald dorthin, und sie schüttelte immer wieder den Kopf, sodaß der bunte Federbusch auf dem Barett hin- und herschwankte. Offensichtlich konnte er nicht finden, nach was er Ausschau hielt. Nun hörte der Holzknecht, daß der Fremde zu reden begann, und als er die Ohren spitzte, konnte er jedes Wort verstehen, das jener zu sich selber sprach: "Wie soll ich auf meine Burg kommen, wenn ich die Straße nicht mehr finden kann, die den Berg hinauf zum Burgtor führt?".

Das konnte niemand anderer sein als der Graf von Kirnstein, der da nicht mehr heimfand. Denn noch im vorigen Jahrhundert ging diese Straße nicht wie heute um den Kirnsteiner Felsen herum am Kirnsteiner Bauernhof vorbei, sondern über den Berg hinauf zur Burg, wo heute eine Forststraße den Wildbarren hinaufführt, und dahinter erst wieder ins Tal am Inn.

Eine ganze Weile suchte die Geistergestalt noch verzweifelt herum, während der sich der Holzknecht nicht zu rühren getraute. Dann stieg sie schimpfend und gotteslästerlich fluchend wieder in ihren Wagen. Der Graf ließ die Peitsche knallend durch die Luft sausen. Da wieherten die Rappen und zogen die Kutsche weg. Sie verschwand vor den Augen des Zuschauers, der ihr angsterfüllt nachguckte, bis sie zwischen den Bäumen seinen Blicken entschwand. Doch hörte er noch eine Zeit lang das Geräusch der Räder und das Bellen der Hunde. Endlich war der ganze Spuk vorbei, die Bergwiese lag friedlich im Dämmerlicht. Zögernd nur machte sich der Holzknecht wieder auf den Weg und war froh, als er heil die Landstraße beim Bauern von Kirnstein erreicht hatte. Nie mehr ging er bei Dunkelheit durch den Kirnsteiner Wald.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 77