Die Nuslbergsage

Jeden Donnerstag nachmittags geht der Pfarrer von Oberaudorf, getreu einer alten Überlieferung, mit einer mehr oder weniger großen Schar von Gläubigen und Naturbegeisterten übers Gfall auf den Nuslberg, um auf diesem Aussichtsberg am Südrand Oberaudorfs und an der Westseite von Dörfl im Hochtal Mühlau einen Gottesdienst zu halten. Auf dem Nuslberggipfel steht nämlich eine Kapelle. Sie ist von alters her ein Wallfahrtsplatz. Übrigens müßte der Nuslberg richtig Ursal-Berg heißen, weil an seinem Osthang in der Mühlau viele Quellen entspringen. Einundzwanzig sollen es sein, wenn sie alle fließen. "Ursal" ist das altdeutsche Wort für Quelle.

Die Entstehung der Nuslbergkapelle geht auf folgende sagenhafte Begebenheit zurück: In alten Zeiten war der Nuslberg zum Teil eine Schafweide. Die Bauern von der Mühlau ließen ihre Wollieferanten dort grasen. An einem Tag im Mai des Jahres 1516 schickten sie Kinder auf den Nuslberg hinauf, denn sie sollten die Schafe nach Hause ins Tal herunter treiben. Obgleich der Weg von den Mühlauer Höfen auf den Nuslberggipfel nicht weit ist, kamen die Kinder lange nicht mit ihrer kleinen Herde zurück. Allmählich bekamen die Leute Angst, ihren Kindern könnte etwas zugestoßen sein, obgleich es seltsam anmutete, daß nicht wenigstens eines von ihnen den Heimweg gefunden hatte. Der Weg selbst war ja gänzlich gefahrlos und den Kindern vertraut. Schließlich machten sich einige bekümmerte Erwachsene auf, um nach den Kindern zu schauen. Als sie auf die freie Wiese ganz oben auf dem Gipfel hinaustraten, bot sich ihnen ein seltsamer Anblick: Alle Schafe knieten auf dem Boden vor einem Marienbild, das zwischen zwei Bäumen aufgehängt war, und die Kinder standen betend zwischen den Tieren.

Sogleich verständigte man die anderen Mühlauer, die umgehend an den Ort dieses wunderbaren Geschehens kamen. Sie brachten dann in feierlichem Zug das Marienbild in die Kirche von Oberaudorf. Dann bauten sie auf dem Berg eine Kapelle, in der das Bild schließlich aufgehängt wurde. Später kam noch eine Klause dazu, die noch bis ins erste Drittel unseres Jahrhunderts von einem Einsiedler bewohnt war.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 26