Die Glocken von Sunkenroth

Ein scharfer Nordwestwind peitschte am 2. Februar des Jahres 1804 dem aus der Gegend von Wasserburg kommenden Wandersmann Karl Stark die Schneeflocken ins Gesicht. Weil es ihm vorkam, bei dem Schneetreiben vom Weg nach Vogtareuth abgekommen zu sein, klopfte er in einer Einöde an, um sich nach Weg und Steg zu erkundigen.

Die Frau des einsamen Wanderers war erst vor kurzer Zeit im Kindbett gestorben und auch das Kindlein lebte nur wenige Tage. So war er wieder ohne Familie und ganz allein. Der Hausstand, den er als selbständiger Maurer sich an einem kleinen Ort gegründet hatte, war auseinandergebrochen. So verließ er diesen und wollte bei Arbeiten in der Fremde Ablenkung von dem schweren Verlust suchen, der ihn getroffen hatte.

So war er wieder Handwerksbursche geworden und wollte als solcher noch heute in der Probstei Vogtareuth um Arbeit vorsprechen.

Die Einödbäuerin gab an der Tür die erbetene Auskunft, ermunterte aber den Fremden gleichzeitig einzutreten und sich vor dem Weitergehen mit Milch und Brot zu stärken. Dieses Anerbieten nahm derselbe gerne an. Im Laufe der Unterhaltung fragte er nach dem Namen der Einöde. "Sunkenroth" heißt der Hof, wurde ihm gesagt, und als er auch noch die Bedeutung dieses Namens wissen wollte, erzählte ihm die Bäuerin folgende Geschichte: In unmittelbarer Nähe dieses Propstmeierhofes stand vor längerer Zeit eine Kirche. Diese ist aber mitsamt einem großen Stück guten Bodens im Moor versunken. Warum auch immer, die seinerzeitige Bäuerin im Moor hatte eine derartige Verwünschung ausgesprochen. Da das Absinken ziemlich langsam vonstatten ging, hatte man noch Zeit, die zwei Glocken vom Kirchturm herunterzuholen. In einem Stadel des Propstes von Vogtareuth wurden sie dann aufbewahrt. Gegen den Willen des Bauern im Moor wollte sie der Kirchenmann auch noch einschmelzen lassen. "Seit jener Zeit trägt der Hof hier den Namen Sunkenroth, was im Dialekt der Leute aus der Bezeichnung ,versunken in der Rott' geworden ist", erklärte die Bäuerin von Sunkenroth.

Bald setzte Karl Stark ausgeruht und gestärkt seinen Weg fort, nicht ohne sich gebührend bei der gastfreundlichen Frau bedankt zu haben. Kurz vor Vogtareuth hörte er die Kirchenglocken läuten, und er beschleunigte seine Schritte. Bald darauf schlug er auch schon mit dem Klöpfel gegen das Tor der Propstei. Aufsein wiederholtes Klopfen öffnete sich ein kleines Schiebefenster neben dem Eingang. Auf die Bitte um ein Nachtlager erhält er den Bescheid: "Da hätt'st rechtzeitig kommen müssen!", und das Fenster fliegt zu.

Enttäuscht geht der durchgefrorene, müde Mann an der Kirche entlang und findet in deren Mauer eine schwere Tür, die sich mit einiger Anstrengung öffnen läßt. Er betritt einen kleinen Vorraum, von dem aus die jetzt versperrte Sakristei zu erreichen ist. Dort also schlüpft er für eine Nacht unter. Weil die anschließende Sakristei für den morgigen Lichtmeßtag gut vorgeheizt worden ist, ist es hier herinnen auch ganz angenehm warm. Karl Stark schläft auch gleich ein. Er kann aber noch nicht lange geschlafen haben, als beißender Qualm ihn weckt und durchs Fenster flackernder Feuerschein ihn aufschreckt. Die Kirche brennt! "Feurio! Feurio!", schreit er aus voller Kehle und rennt ins Freie. Da kommen auch schon vom Propsteigebäude Leute herbeigeeilt, um zu löschen. Sie sehen den Fremden aus der Tür des Sakristeibaues huschen und glauben, in ihm den Brandstifter erwischt zu haben. In wenigen Minuten ist er in einer Zelle eingesperrt, die das Davonlaufen unmöglich macht.

An ein Löschen des sich zum Großbrand ausweitenden Feuers ist bald nicht mehr zu denken, weil das wenige Wasser, das die Dorfbewohner beibringen können, sofort gefriert. Die 300 Jahre alte gotische Kirche versinkt in Schutt und Asche. Der Turm und das Propsteigebäude werden gerettet.

Gleich am Tag nach dem Brand wird der Wandersbursche vor das Propsteigericht gestellt. Seine Angaben über den Aufenthalt in Sunkenroth werden vom dortigen Propstmeier bestätigt. Trotzdem glaubt niemand den Unschuldsbeteuerungen des Angeklagten, und er muß auch noch die "peinliche Befragung" über sich ergehen lassen. Trotz der Daumenschrauben, die ihm angelegt werden, bleibt Karl Stark bei seiner Aussage, mit dem Ausbruch des Feuers überhaupt nichts zu tun zu haben. Doch auch das hilft dem armen Teufel nichts. Er wird zum Tode durch den Strang verurteilt. Am 4. Februar soll das Urteil vollstreckt werden. An diesem Tag formt sich schon frühzeitig der Zug mit dem Delinquenten, einem Geistlichen, dem Richter und den Propsteileuten, und er wird begleitet von viel Volk aus der näheren und weiteren Umgebung. Sie ziehen hinaus zur Richtstätte auf dem Tötenberg. Dort ist der Galgen bereits aufgerichtet. Zwei Vogteiknechte hoch zu Roß eröffnen den Zug.

Neben dem zweirädrigen Karren mit dem Verurteilten geht der Klostergeistliche Pader Beda mit seinen Ministranten. Das Armesünderglöckchen bimmelt unentwegt und soll bis zur vollendeten Hinrichtung läuten. Die Stelle mit dem Hochgericht heißt auch "Am hohen Weg". Als man an diesem Platz angelangt ist, reißt plötzlich das dunkle Gewölk auf und die Sonne strahlt hernieder. Doch was ist das? Das Armesünderglöckchen hat zu läuten aufgehört, dafür aber hört man klar die Töne zweier Glocken, die Glocken, die zu Sunkenroth gehörten. Und jetzt erklingen gar alle Glocken von den Kirchen und Kapellen der ganzen Umgebung. Alle Leute bei der Richtstätte fallen auf die Knie und beten. Auf einmal löst sich aus der Gruppe der Ministranten einer und läuft unter Schreien zum Richter: "Der Mann auf dem Karren ist unschuldig! Ich habe den Brand verschuldet !" Und er berichtet, daß er in der Sakristei die nacht über den Ofen hätte hüten sollen, solange darin eine Glut war. Er wäre aber in aller Frühe am Lichtmeßtag, noch bevor das Feuer ganz niedergebrannt war, nach Hause gegangen, weil er mit anderen Buben zum Schlittenfahren gehen hat wollen.

Der Richter entläßt Karl Stark sofort als freien Mann. Die Glocken verstummen, auch die von Sunkenroth. Am selben Tag erzählt der Bauer von dort, daß die zwei Glocken, die immer noch im Stadel aufbewahrt werden, von selbst zu läuten angefangen haben. Das aber kann doch nur ein Wunder gewesen sein.

Die Vogtareuther gelobten daraufhin, auf dem "Hohen Berg" eine Kapelle zu bauen und die Sunkenrother Glocken in deren Turm zu hängen. Karl Stark, der Handwerksbursche, trat in ein Kloster ein und wurde Priester. Einige Jahre, nachdem er zum Tode verurteilt worden war, feierte er in der neuen Kapelle "Am Hohen Berg" sein erstes heiliges Meßopfer als Pater Paulinus. Die zwei Glocken, die seinerzeit beinahe in der Rott versunken wären, läuteten das Primizfest ein. Ganz Vogtareuth und Umgebung feierten mit dem Primizianten Pater Paulinus.

In der Nähe des Obstgartens vom Praßmeier in Sunkenroth vernehmen Sonntagskinder am Lichtmeßtag aus der Tiefe Glockengeläute.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 178