Der feurige Tatzelwurm in der Gumpeischlucht

Schon seit Jahrhunderten wanderten fromme Pilger, beladen mit ihren Sorgen und Anliegen, vom Audorfer Tal am Inn hinüber übers Gebirg ins Leitzachtal nach Birkenstein, um dort in der Wallfahrtskapelle von der Gottesmutter Maria Hilfe zu erflehen oder nach Erhörung ihrer Bitten Dank abzustatten. Oft waren es einzelne Pilger, manchmal auch ein kleinerer oder größerer Wallfahrerzug, die betend den fast fünfstündigen Weg durchs Auerbachtal und übers Sudelfeld unter die Bergstiefel nahmen. Das am Wallfahrtsweg liegende Bauernanwesen Aschau am Auerbach, das schon vor mehr als siebenhundertfünfzig Jahren den Namen "Zum Datzelwurm" trug, hatte diese Bezeichnung nicht von ungefähr. Denn in der nahen Aschauer- oder Gumpei-Klamm hauste dazumal ein fürchterliches Drachenuntier, wo der Auerbach sich seit Jahrtausenden in den Fels gefressen hat. Über zwei Felsstufen stürzt er in eine nur wenige Meter breite Klamm gurgelnd, rauschend, schäumend und sprühend siebzig Meter in die Tiefe. Die vom aufstäubenden Wasser durchsetzte Luft schimmert oft in den Farben des Regenbogens. Unten aber ist es finster und feucht, und das Getöse des Wassers macht, daß man sein eigenes Wort nicht versteht.

Das war für einen Drachen der richtige Platz. Obgleich keiner, dessen er mit seinen schrecklichen Krallen habhaft werden konnte, je von dort heimgekehrt war, wußte man weit und breit von seinem Aussehen und seinem Appetit auf Menschenfleisch. Der Tatzelwurm hatte ein riesiges Maul, größer als das eines Krokodils, und es war mit messerscharfen, spitzen Zähnen gespickt. Aus seinen Nüstern stieß er Rauch und Feuer und sein Schuppenpanzer glänzte in allen Farben. Den nach allen Seiten sich windenden Körper trugen sechs stämmige, kurze Beine und schließlich hatte er auch noch große Fledermausflügel. Mit Vorliebe stürzte er sich auf allein dahinwandernde Pilger, zerfleischte und verschlang sie mit Haut und Haaren, so daß von den Ärmsten nie mehr etwas gefunden wurde. Auch hatte das Ungetüm mehrere Sennerinnen von den Almen der Umgebung verspeist.

Warum der Tatzelwurm seit langem kein Unheil mehr angerichtet hat und nie mehr gesehen wurde? Vielleicht hat der moderne Verkehr, der die Wallfahrer per Omnibus oder Privatauto nach Birkenstein bringt, ihm die Nahrungsgrundlage entzogen, und die Sennerinnen sind ihm zu alt geworden, weil kaum noch ein junges Dirndl auf die Alm zieht.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 117