Die Baumeister von Wasserburg

Vor mehr als sechshundert Jahren ist das Rathaus in Wasserburg gebaut worden. Zur gleichen Zeit mit dem Ratsgebäude sollte aber auch noch eine Kirche errichtet werden. Man berief Steinmetzen und Bauleute zu Häuf und trug deren Meistern auf, ihres Geschäftes nicht zu säumen. Die Oberleitung bei den Bauten hatten zwei wackere Steinmetzen übernommen. Hans, der ältere der beiden, mußte den Kirchenbau führen, und Stephan, der jüngere, sollte das Rathaus errichten. Beide waren wohlerfahren in ihrem Handwerk. Auch arbeiteten sie schon lange miteinander und hatten geschworen, ohne Eifersucht oder gar Haß wie gute Brüder zusammenzuhelfen. Bei ihrem jetzigen Werk spielte aber noch ein ganz besonderer Umstand mit: Demjenigen, der zuerst sein Werk vollendet hätte, sollte ein Preis zugesprochen werden, ein ganz absonderlicher Preis und nicht von Gold oder Silber. Des Bürgermeisters schönes Töchterchen sollte es sein. Und das war so gekommen: Die beiden Steinmetzen hatten zu gleicher Zeit ihr Auge auf das liebenswerte Mägdlein geworfen. Dessen Vater war das nicht verborgen geblieben. Weil aber beide rechtschaffene und kunstfertige Männer waren, konnte sich der Bürgermeister nicht entscheiden, welchem von den beiden er seine Tochter zur Frau geben sollte. Die Braut selbst aber war noch nicht befragt worden. Diese hatte sich in ihrem Herzen für den jüngeren, den Stephan, entschieden.

Der Zufall fügte es, daß Stephan zuerst sein Werk vollendet hatte. Das Rathaus stand vollendet da, dem Kirchturm aber fehlte noch die Spitze. Der Wettstreit war entschieden, Stephan sollte die hübsche und reiche Tochter als Braut heimführen. Das war wohl eine harte Probe einer Männerfreundschaft. Hans trug sein Schicksal ohne Neid und Groll, dem Freund zugetan wie zuvor. Aber das konnte nun Stephan in seinem guten Herzen nicht mit ansehen. Es war ihm nicht wohl dabei, im Glück zu sitzen, während sein Freund unglücklich sein mußte. Er ging traurig und mißmutig umher und gedachte, wie er des Jammers loswerden könnte. Eines Tages war er verschwunden.

In seiner Stube fand sich statt seiner ein steinernes Abbild, dazu eine Schrift, darin er der Braut und dem Freund seinen letzten Gruß aussprach und auch seinen Entschluß kund tat, in ein fernes Kloster zu ziehen.

Ob Hans die nun verlassene Braut dann heimgeführt hat, davon wird nichts berichtet. Die Freude an seinem Werk jedoch scheint er verloren zu haben, denn die Spitze des Kirchturmes fehlt bis auf den heutigen Tag.

Das steinerne Bildnis Stephans ist noch jetzt im Rathaus zu Wasserburg aufbewahrt. Es ist ein eindrucksvoller Kragstein, den man den "getreuen Stephan" nennt.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 184