Die Wirbelwindhexe

In unseren Bergen gibt es in manchen Hochtälern oft kreisrund herumwirbelnde Winde von solcher Heftigkeit, daß das Heu auf den gemähten Wiesen hochgerissen und fortgetragen wird. Schuld an diesen Wirbelwinden ist aber nur eine Hexe, die unsichtbar mitten darinnen steckt. Das glaubten seinerzeit die Bauern und sie versuchten, diese bösen Hexengeister zu verjagen, wenn sie die Heufelder leerfegen wollten. Darum schrien sie, wenn sich so ein Wirbelwind erhob, durch die vor den Mund gehaltenen hohlen Hände aus Leibeskräften: "Pfui, Sauviech! Fort, du Luder!" Mit solchen oder ähnlichen derben Rufen vermeinten sie, die Wirbelwindhexe verscheuchen zu können.

Einmal führte einem jungen Bauern in der Mühlau der Wirbelwind einen großen Haufen Heu davon. Da zog er sein Messer und schleuderte es mit dem Ruf "Im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit!" mitten in den Wirbel. Daraufhin raste der Wind tobend und zischend davon und entfernte sich schnell. Mit ihm aber war auch das Messer verschwunden, das der Bauer auf die Wirbelwindhexe geworfen hatte. Er suchte es eine ganze Zeit lang, aber vergebens. Es war, als hätte sie es mitgenommen. Den Verlust verschmerzte er gern, denn vor dem Störenfried hatte er nun endgültig seine Ruhe.

Nach einem Jahr etwa kehrte eben dieser Mühlauer Bauer in einem Wirtshaus im nahen Tirol ein. In einem Deckenbalken der Gaststube steckte ein Messer. Beim näheren Hinschauen erkannte er es als das seine, das er der Wirbelwindhexe nachgeworfen hatte.

Ohne sich zu verraten, fragte er den Wirt, was denn dieses Messer da oben zu bedeuten hätte. Da erzählte ihm der Wirt, daß er vor einem Jahr seine eigene Tochter tot auf der Stiege zum Obergeschoß in einer Blutlache gefunden hat, und das Messer steckte in ihrem Hals. Und er, der Wirt, meine, daß er den Mörder schon finden werde, denn es sei derjenige, der einmal kommen und das Messer als das seine beanspruchen würde.

Jetzt wußte der Bauer, was für ein Ungeheuer diese Wirbelwindhexe gewesen war, und war heilfroh, sich nicht als Eigentümer des Messers ausgegeben zu haben, bevor er den Tiroler Wirt nach dessen Bewandtnis gefragt hatte. Er schwieg also wohlweislich, bezahlte bald seine Zeche und machte sich rasch auf den Heimweg. Erst als er wieder sicher in der Mühlau droben war, erzählte er den Seinen sein Erlebnis, und es lief ihm dabei noch nachträglich kalt über den Rücken.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 25