216. Die Erdgeister in Greifswald.
In der Stadt Greifswald und der Umgegend hielten sich in früheren
Zeiten viele unterirdische Erdgeister auf, von den Leuten gewöhnlich
nur die Zwerge genannt. Sie haben sehr lange dort gehauset, bis sie zuletzt
auf einmal ganz aus dem Lande gezogen sind. Zu welcher Zeit und bei was
für Gelegenheit dies geschehen ist, weiß man nicht mehr; aber
man weiß noch recht gut den Weg, den sie genommen, und daß
sie bei Jarmen aus Pommern gegangen sind. Von da sollen sie sich weiter
in das gebirgige Land begeben haben.
Diese Erdgeister hatten Gewalt über alles Gold und Silber, und über
die edlen Steine, die in der Erde verborgen liegen; sie waren auch im
Ganzen gutmüthig und halfen den Menschen gern, und thaten ihnen Gutes.
Dabei trugen sie aber manchmal ein sonderbares Verlangen nach hübschen
Menschenkindern, so daß sie die den Leuten oft aus der Wiege stahlen
und ihre häßlichen Wechselbälge dafür hinlegten.
Oft auch verliebten sie sich in hübsche Mädchen und begehrten
ihrer zur Ehe. Der Weg zu ihren unterirdischen Wohnungen ging gewöhnlich
durch einen schmutzigen Ort, z.B. unter dem Gußloche des Spülichts
oder unter einer Tranktonne her. Des Tages krochen sie in Gestalt von
Fröschen oder anderem häßlichen Ungeziefer umher, des
Nachts aber zeigten sie sich in ihrer eigentlichen Gestalt; besonders
tanzten sie gern im Mondschein, und waren dann vergnügt und lustig.
Man erzählt sich viele sonderbare Geschichten von ihnen. So war einmal
in Greifswald eine Frau, die verwünschte eines Abends, wie es schon
spät war, ihr Kind, weil es so arg schrie, und die Frau nicht schlafen
konnte. Da that sich auf einmal die Thür leise und behende auf, und
es schlich sich ein Zwerg herein, der riß ihr schnell das Kind vom
Schooße und lief damit fort; die Frau hat das Kind niemals wieder
gesehen. Einer anderen Frau glückte es eines Abends noch eben, ihr
Kind an der Ferse fest zu halten, als sie eingeschlafen war, und ein Zwerg
es ihr vom Schooße hatte stehlen wollen.
Ein andermal kam zu einer Köchin eine große dicke Kröte
in die Küche. Die Köchin nahm einen Spaten, um das Thier todt
zu schlagen, dieses aber kroch geschwind unter eine Tranktonne und rettete
so mit genauer Noth sein Leben. Nicht lange danach wurde das Mädchen
von den Zwergen zu Gevatter gebeten, und wie sie zugesagt hatte, des Nachts
unter dem Backtroge in die Erde geführt. Sie mußte viele Treppen
heruntersteigen, bis sie in das Zimmer der Kindbetterin kam. Hier war
Alles von Gold und Silber, und die Wöchnerin selbst war über
und über mit Juwelen bedeckt. Nachdem das Kind getauft war, setzte
man sich zu Tische; der Tisch war gedeckt mit lauter golddurchwirkten
Laken, und mit vielen köstlichen Speisen besetzt, die in silbernen
und goldenen Schüsseln standen. Aber über dem Kopfe der Köchin
hing auf einmal ein großer schwerer Mühlstein an einem seidenen
Faden. Darüber erschrak die Köchin sehr und wollte in ihrer
Angst geschwinde aufstehen. Die Kindbetterin sagte aber zu ihr: Fürchte
dich nicht, dir wird nichts geschehen; ich wollte dir nur zeigen, wie
angst mir war, als du mich vor Kurzem in der Küche mit dem Spaten
verfolgtest, und mein Leben auch an einem seidenen Faden hing. Das Mädchen
konnte aber doch seine Furcht nicht verwinden, bis es zuletzt mit vielen
Geschenken entlassen wurde.
Wieder ein ander Mal hatte sich ein vornehmer Zwerg in ein schönes
Mädchen verliebt, und begehrte sie mit Gewalt zur Frau. Das Mädchen
hatte zwar einen großen Widerwillen gegen ihn, weil er so klein
und gewiß nicht schön war, und sie konnte sich nicht dazu entschließen,
ihn zu heirathen. Er steckte sich aber hinter ihren Vater, und weil er
diesem viel Geld und Gut versprach, so mußte sie ihm zuletzt ihre
Hand zusagen. Nun kam sie aber mit ihm überein, daß sie ihrer
Zusage los seyn solle, und er wolle von ihr abstehen, wenn es ihr gelinge,
seinen Namen zu erfahren. Das Mädchen kundschaftete lange Zeit vergebens.
Zuletzt half ihr der Zufall. Es fuhr nämlich in einer Nacht ein Fischhändler
die Straße nach Greifswald. Wie der an einer Stelle viele Zwerge
lustig im Mondschein tanzen und springen sah, da hielt er verwundert an,
und nun hörte er auf einmal, wie einer der Zwerge in seiner Freude
laut rief: Wenn meine Braut wüßte, daß ich Doppeltürk
heiße, sie nähme mich nicht! Das erzählte der Fischhändler
des anderen Tages im Wirthshause zu Greifswald, und von der Wirthstochter
hörte es die Braut. Diese dachte gleich, daß das ihr Liebhaber
gewesen sey, und wie derselbe wieder zu ihr kam, nannte sie ihn Doppeltürk.
Da verschwand der Zwerg in großem Aerger, und die Liebschaft hatte
ein Ende.
Mündlich.
Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J. D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 216