211. Die Jungfrau am Waschstein bei Stubbenkammer.
Dicht bei Stubbenkammer auf Rügen erhebt sich am Strande des Meeres
der Waschstein. In einer Höhle unter demselben hat vor Zeiten der
berüchtigte Seeräuber Störtebeck seine Niederlage gehabt;
dorthin zog er, um von seinen Räubereien auszuruhen, mit seiner Bande,
welche im Lande den Namen der Vitalienbrüder hatte; dort verbarg
er seine großen geraubten Schätze. Dieser Zufluchtsort war
allen seinen Verfolgern unbekannt, und er war deshalb in demselben sicher
vor Verfolgung.
In dieser Höhle ist es noch jetzt nicht geheuer, und man trifft allnächtlich
um Mitternacht einen seltsamen Spuck darin. Insbesondere sieht man oft
eine trauernde Jungfrau daraus hervorkommen, mit einem blutigen Tuche
in der Hand. Mit demselben begiebt sie sich an das Wasser, um die Blutflecken
herauszuwaschen. Aber dies will ihr nicht gelingen, und sie geht dann
seufzend in die dunkele Höhle zurück. Von dieser Jungfrau erzählt
man, daß sie ein vornehmes Fräulein aus Riga gewesen ist, die
hat Störtebeck einmal auf einem Raubzuge nach Liefland gefangen und
mit sich weggeführt, gerade als sie ihrem Bräutigam sollte angetraut
werden. Der deutsche Ordensmeister hat ihn zwar mit vielen Schiffen verfolgt,
ihn aber nicht einholen können. Darauf hat Störtebeck sie in
die Höhle am Waschstein gebracht, und wie er wieder zu einem neuen
Zuge in See gegangen, hat er sie darin sammt allen seinen geraubten Schätzen
eingeschlossen. Von diesem Zuge ist er aber nicht wieder heimgekehrt;
denn es war im Jahre 1402, und in diesem selbigen Jahre wurde er mit 711
seiner Spießgesellen von den Hamburgern nach einem blutigen Treffen
eingefangen und nach Hamburg gebracht, wo sie sämmtlich hingerichtet
wurden. Die Jungfrau mußte darauf, weil Niemand sie befreien konnte,
in der Höhle am Waschstein einen schrecklichen Tod sterben, und sie
hat noch immer bei den Schätzen, die sie bewacht, keine Ruhe finden
können.
Vor vielen Jahren sah sie einmal ein Fischer, wie sie unten am Waschstein
stand und das blutige Tuch vergebens in das Meer eintauchte, und vergebens
die Blutflecken herauszuringen suchte. Er faßte sich ein Herz und
ruderte näher zu ihr hin, und redete sie an mit den Worten: Gott
helf, schöne Jungfrau! Was machst du so spät hier noch allein?
Die Jungfrau verschwand darauf; aber der Fischer war wie von einer Zauberei
befangen, so daß er nicht von der Stelle konnte. Und wie nun Mitternacht
kam, da sah er die Jungfrau wieder; sie trat zwischen den Kreidefelsen
hervor auf ihn zu, und sprach zu ihm: Weil du Gott helf zu mir gesprochen,
so ist dein Glück gemacht; folge mir nach! Damit kehrte sie zwischen
die Felsen, und er folgte ihr in eine große, weite Höhle, die
er vorher noch nie gesehen. Darin lagen unermeßliche Haufen von
Silber, Gold, Edelsteinen und Kostbarkeiten aller Art.
Wie der Fischer die noch überschaute, so hörte er auf einmal
auf der See Ruderschlag, und als er sich danach umblickte, da sah er ein
großes schwarzes Schiff nahen; aus demselben stiegen an die tausend
Männer, Alle in dunkler, alter Tracht, und Alle das Haupt unter dem
Arme tragend. Die schritten still, und ohne ein Wort zu sprechen, in die
Höhle hinein, und fingen an, in den geraubten Schätzen zu wühlen
und sie zu zählen. Das waren die Geister des geköpften Störtebeck
und seiner Genossen; sie kommen jede Nacht so dahin und zählen ihren
Raub, ob er noch vorhanden ist. Nachdem sie lange in dem Golde herumgewühlt
hatten, verschwanden sie Alle wieder; und nun füllte die Jungfrau
dem Fischer einen Krug mit Gold und Edelsteinen, daß er Zeitlebens
der Reichthümer genug hatte. Darauf geleitete sie ihn zu seinem Schiffe
zurück, und als er sich wieder nach ihr umsah, war sie zusammt der
Höhle verschwunden. Oben auf dem Waschstein kann man auch alle sieben
Jahre ein Meerweibchen sehen, die dann aus der See steigt, um sich oben
auf dem Steine in der Sonne zu waschen.
Carl Lappe, Pommerbuch, S. 25.
Freyberg, Pommersche Sagen, S. 25-31.
Grümbke, Darstellung der Insel Rügen, I. S. 42.
Die Volkssagen von Pommern und Rügen, J.
D. H. Temme, Berlin 1840, Nr. 211