Das Kreuzjoch fällt auf die falsche Seite

Im dunkelumwaldeten und ganz abgeschlossenen Hochtal von Ratschinges hat sich Siedlung und Volkstum unverfälscht erhalten. In diesem Tale steht Huisile im Mittelpunkt der heimatlichen Sagenwelt, denn Huisile stammte ja von Ratschinges, wo man noch die Ruinen des alten Huisler-Höfleins zeigt. Mit großer Anteilnahme wird das Mißgeschick des Hexenmeisters erzählt, der ohne Absicht einen Felssturz im Talhintergrund verursacht hatte, obwohl dieser Felssturz für das Passeiertal bestimmt gewesen wäre. Diese seltsame Geschichte hat sich folgendermaßen zugetragen:

Huisile hatte ein großes und verwegenes Werk ins Auge gefaßt - er wollte die Berghöfe von Stuls im Passeiertal vernichten, da ihn die dortigen frommen Bauern erzürnt hatten. Nahe der "Weiße" liegt der sagenumspielte Übelsee, wo die Hexen ihre nächtlichen Zusammenkünfte abzuhalten pflegten. Ein Felsblock zeigt noch heute seltsame Zeichen. Der See ist auch ein "ziecheter See". Wer im Umkreis einer halben Stunde einschläft, ist beim Aufwachen schon halb im Wasser, denn der See zieht die Leute an. Auch ein Schuster ist in den See gebannt. Einmal warfen Hirtenbuben Steine in das Wasser, da kam ein junges Dirndlein heraus und bat die übermütigen Hirten, sie sollten keine Steine mehr hineinwerfen, denn ihr Vater müsse die Schuhe fertig machen.

Dieser unheimliche See kam Huisilen grad recht. Er erinnerte sich daran, daß schon die Hexen den See mit Nußschalen ausschöpfen wollten, um das Passeiertal zu überschwemmen, aber es ist ihnen wegen der geweihten Wetterglocken nicht gelungen. Er wollte es besser und gründlicher machen. Der See und die "Weiße" mußten zusammenhelfen. Den See wollte er auslassen, die "Weiße" wollte er aber gleichzeitig hinunterschieben - alles von einem furchtbaren Wetter begleitet!

So führte er drei Tage lang in einer Eischale mit seinem schwarzen Bock das Zauberwasser vom Übelsee zur "Weiße". Um ganz sicher zu gehen, führte er außerdem noch Steine auf das Joch, die er an der steilsten Stelle aufschichtete. Dahinter hatte er eine Grube für das Zauberwasser gemacht. Es muß ein feiner Anblick gewesen sein, wie Huisile, ganz schwarz vor Zorn und Unmut, hinter seinem Bock hergestapft ist. Endlich hatte er genug Wasser angesammelt und die Wetter vorbereitet. Mit Saus und Braus wollte er hinunterfahren gegen Stuls im Passeiertal. Wasser und Wetter entluden sich schrecklich, Huisile hatte sich auf der anderen Seite der "Weiße" aufgestellt, wo er nun versuchte, das Joch in das Passeiertal zu schieben. Die Donner krachten. Blitze zuckten. Der Berg begann schon zu wackeln. Huisile schien sein Spiel gewonnen zu haben: Bald wird ein Bergsturz das Dörflein Stuls begraben...

Aber mitten in diesen Aufruhr der Natur erhoben die geweihten Wetterglocken vom ganzen Umkreis ihre flehenden und dröhnenden Stimmen:

A FULGURE ET TEMPESTATE!

Zuerst läuteten ängstlich die Glöcklein von Stuls, dann stimmten die kleinen Schellen von Glaiten im uralten Hippolytus-Kirchlein mit ein, die eine unbesiegbare Wetterkraft besaßen, so daß ihnen nach dem Volksglauben keine Hexe widerstehen konnte. Auch die Glocken von Platt im Passeier klangen in das Toben der Elemente, und endlich wurde sogar die große Wetterglocke von Sankt Leonhard im Passeier gezogen, die nur bei Hochwetter geläutet werden durfte. Diese Wetterglocke erfreute sich beim Volk des sagenhaften Rufes, daß sie jedes Hochwetter zu bannen imstande sei, wenn sie nur früh genug geläutet werde.

Ein Ritter des Schlosses Jaufenburg wollte einmal der Kirche soviel Silber vermachen, als die Glocke inwendig fassen konnte, wenn sie nur nach seinem Tode geläutet würde. Aber die frommen Bauern haben das Silber abgelehnt, ihnen war die Kraft der Wetterglocke wertvoller!

Gegen solche geballte Macht der geweihten Glocken sah sich auch Huisile trotz aller Zauberkraft und trotz der Wasser aus dem Übelsee zu schwach. Mit Entsetzen mußte er mitten in seinem Werk erkennen, daß er sich nun selbst eine Grube gegraben hatte. Denn - o weh - die "Weiße" über der Klammalbe von Ratschinges hatte schon zu wackeln begonnen; aber infolge der geweihten Glocken hatte Huisile nicht mehr die Macht, den Berg in das Passeiertal zu schieben. Er hatte auch nicht mehr die ungeheure Kraft, den Berg wieder an Ort und Stelle zu setzen. Die Felsen waren locker geworden. Verzweifelt stemmte sich Huisile gegen sie, umsprungen von seinem schwarzen Bock, um den Sturz der Wand in das Tal von Ratschinges zu verhindern. Doch er war zu schwach. Der Fels wankte und fiel hinunter in das eigene Heimattal von Ratschinges. Fast eine Gehstunde weit flogen die Felsen und Steintrümmer hinunter auf die Klammalbe und verwandelten die früher so üppige Weide in eine "wilde Gande!"

Beschämt mußte Huisile wieder abziehen. Er hatte sich selbst eine Grube gegraben, denn sein eigens Heimattal so zu verwüsten, das hatte er nicht beabsichtigt. "Dies han i nit gewöllt", erzählte er hernach bedrückt, "aber i han's nimmer derhöbt, und es isch hiebei ogen gangen...!" Ratschinges ist ja das einzige Tal des ganzen Brennergebietes, des Eisacktales, des Sarntales und Passeiertales, das er verschonen wollte. Aber gerade bei Ratschinges mußte ihm dies Mißgeschick geschehen. "Er hat's sovl ungearn g'söchn", sagen heute noch die Bauern von Ratschinges und behaupten fest, daß man noch die Fußabdrücke des Hexenmeisters am Kreuzjoch sieht, wo er geschoben hat, ebenso aber auch die "Kloa" des schwarzen Bockes, auf dem er lustig ins Passeiertal reiten wollte. Merkwürdigerweise passen aber in die Fußabdrücke alle Schuhe hinein, ob von großen oder kleinen Leuten.

Nach diesem Mißerfolg war Huisile auf die Glocken vom Passeiertal ganz besonders schlecht zu sprechen. Er erzählte daher grimmig:

"Wenn die Platter Goaßschellen,
Die Stuller Hafendeckel,
Die Leharter Hafenplatten und
Die kloan Polter Rölliler 6)
nit geläutet hatten,
noar hatt i's Passeir ausgschwenzt!"

Damit meinte er verächtlich die Glocken von Platt, von Stuls, die Wetterglocke von Sankt Leonhard und die kleinen Glöcklein von Hyppolitus auf Glaiten. Diesen Wetterglocken war er nicht gewachsen! Da half ihm nicht einmal das Wasser vom Übelsee! Die frommen Passeirer haben dann ein Wetterkreuz auf der "Weiße" errichtet, so daß mit der Zeit ein neuer Name für die "Weiße" aufgekommen ist: Das hoache Kreuzjoch! Der Name "Weiße" ist heute fast vergessen.

6) Wenn manche Glocken verächtlicherweise auch mit einem Hahn verglichen werden, wie z. B. die Rizoler Hahnler oder die Polter Rölliler, so hing das mit einer alten Sitte zusammen, daß den Hähnen in manchen Gegenden sogenannte "Rollen" oder "Rölliler", also kleine Glöcklein. angehängt wurden. Mit solch kleinen "Röllilen" eines Hahns werden nun die geweihten Glocken verglichen.

Quelle: Pfeifer Huisile, Der Tiroler Faust, Hermann Holzmann, Innsbruck 1954, S. 75 - 78.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Februar 2005.