Ende einer Volkskunst...?
Erzählungen und Erzähler

Die Erzählungen und Geschichtlein über Pfeifer Huisile wurden nicht schriftlichen Quellen entnommen, sondern dem Munde des Volkes abgelauscht. Die ältesten Vertreter einer sterbenden Generation von gestern sind die Gewährsleute. In letzter Stunde konnten daher diese Volksüberlieferungen dem Schicksal des Vergessens entrissen werden. Wie ein altes Gemälde war diese einst volkstümlichste Sagengestalt Tirols am Verblassen. Nur stückweise konnten kleine und kleinste Mosaiksteinchen zusammengetragen werden, bis endlich das ursprüngliche Bild hell und klar zum Vorschein kam.

Schon bei der Sammlung der Heimatsagen des Wipptales und hernach des Eisacktales ist immer nur das Volk zu Worte gekommen. In Wanderungen durch Täler und Neusiedlungen wurden die alten Leute ausgefragt und ihre Erzählungen unauffällig niedergeschrieben. Oft geschah es dann, daß in einer heimeligen Bauernstube das Gespräch wie von selbst auf die alte Zeit gerichtet wurde. Alt und Jung stand dann ganz unter dem Banne des uralten Wörtleins: "Es war einmal!" In solchen Stunden konnte heimlich die reichste Ernte heimgebracht werden. Immer wieder wußte der eine Erzähler dies und der andere jenes und eine Geschichte löste die andere ab. In jedem Hochtal gab es geborene Erzählertalente, die mit faszinierender Kraft auf die Zuhörer einwirkten, daß alle wie gebannt ihren Erzählungen lauschten.

Bei diesem jahrelangen, persönlichen Umgang mit dem Volke ergaben sich nun Erfahrungen und Erkenntnisse, die einmal ausgesprochen werden müssen:

Die großen, alten Volkserzähler sind langsam am Aussterben!

Früher gab es in jedem Tal richtige Erzählergenies, die mit staunenswertem Gedächtnis die Überlieferungen von Jahrhunderten in die Gegenwart hineintrugen. Heute sind diese naturhaften Talente am Verstummen. Damit hört auch die Kunst des Erzählens auf, wenn nicht neue Formen gefunden werden!

Aber - diese Erscheinung, daß das Volk die uralte Kunst des Erzählens vergessen und verloren hat, steht keineswegs vereinzelt da. Es ist nur ein kleiner Teil einer großen geistigen und kulturellen Umbildung, die sich schließlich und endlich auf die gesamten Lebenserscheinungen der bäuerlichen Welt erstreckt. Nichts ist davon ausgenommen. Wie eine Lawine ist die neue Zeit herangebraust.

Schon vor etwa 100 Jahren begann der Bruch mit der alten Volkstradition auf allen Gebieten des volkstümlichen Lebens. Mit der bäuerlichen Tracht wurde der Anfang gemacht. Die heimkehrenden Jäger, die ihre Dienstzeit hinter sich hatten, brachten die langen Hosen als neue Mode in das Tal. Hausgeräte und Möbel wurden vor allem in der neuen Mode bevorzugt. Die Altertumshändler schossen im 19. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden und konnten ihren Aufträgen kaum nachkommen. Die wertvollen Hausurkunden wurden von eigenen "Permentenhändlern" zu Spottpreisen aufgekauft, um bei Uhrmachern und Goldschmieden Verwendung zu finden. In Kirchen und Kapellen wurden die gotischen Statuen entrümpelt.

Aber neben dieser äußeren Um- und Neugestaltung der bäuerlichen Kulturwelt hatte sich langsam auch ein Wechsel in der inneren Haltung vollzogen. Jahrzehntelang dauerte dieser Prozeß, der in den größeren Dorfgemeinschaften als abgeschlossen betrachtet werden muß. In abgelegenen Hochtälern und Bergsiedlungen jedoch haben sich noch erstaunlich viel alte Lebensformen erhalten. Es bestätigt sich tatsächlich diese Erfahrung, die Hermann Wopfner ausspricht, daß das Mittelalter bei den bäuerlichen Siedlungen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gedauert hat. Diese Erfahrungen macht man wieder in besonders auffallender Form bei Forschungen über Sagen und Bräuche: In den größeren Ortschaften, vor allem an Verkehrspunkten, ist in vielen Fällen das Sagengut fast vergessen und erstorben. In Steinach erzählte man nach Berichten der heute siebzigjährigen Bewohner einstens sehr viel über Pfeifer Huisile. Aber heute ist die Erinnerung daran bei der Jugend vollständig verblaßt. Im Valsertal jedoch und in Obernberg hat sich das Gedenken an Pfeifer Huisile auch bei der jüngeren Generation lebendig erhalten. In Pflersch wiederum sowie in den anderen Hochtälern um Sterzing gehört Pfeifer Huisile heute noch zum Erzählgut des Volkes. Alt und Jung horcht gerne zu. Immer noch kann es zufällig geschehen, daß selbst in Wirtshäusern das Gespräch auf Pfeifer Huisile kommt. Im Sarntal war die Bauernstube beim Hochkofler gedrängt voll, und alles lauschte den Erzählungen. In mehreren Schulen des Eisacktales steht Pfeifer Huisile noch heute als Aufgabe im heimatlichen Unterricht, so in Pflersch, in Jaufental, in Mareit, in Mauls, in Pens im Sarntal und wohl noch in anderen Schulen. Diese Tatsache deutet auf großes Verständnis der dortigen Lehrpersonen.

Was sind nun die Ursachen des langsamen Zerfalls des heimischen Erzählgutes? Kann dieser Zerfall überhaupt noch aufgehalten werden? Können die Volkserzählungen irgendwie diese Krise überdauern oder sind sie zum Aussterben verurteilt?

Diese Fragen enthalten eine Menge Probleme, die allein schon eine eingehende Untersuchung fordern würden. Sicher ist die eine Tatsache:

Was verloren ist, kommt nicht wieder!

Wenn ein wertvolles Gemälde verblaßt ist, kann der beste Restaurator mit den besten Mitteln nichts mehr ausrichten! So ähnlich ist es auch mit dem alten Kulturgut der Volkserzählungen. An Stelle des Gedächtnisses ist in der Gegenwart das Buch getreten, dann die Zeitung und neuerdings auch der Rundfunk. Früher beschäftigten sich die alten Leute nur mit der Geschichte des eigenen Tales und der eigenen Familien. In manchen Köpfen der Volkserzähler stauten sich richtig die Geschehnisse von Jahrhunderten. Staunenswert war das Gedächtnis der alten Leute, aber auch nicht beschwert von dem täglichen Wechsel unserer Zeitereignisse, die sich ständig überstürzen. Die Leute hatten auch Zeit zum Erzählen. Es fehlte das elektrische Licht. Die dunklen, geheimnisvollen Winterabende waren lang. Das Volk stand damals ganz unter dem Eindruck der Erzähler. Ein guter Erzähler konnte die Langeweile vertreiben. Er war das Leben. Er war die Zeitung. Schon ein Gang zum Markt nach Sterzing bildete ein Ereignis für die Bauern der Hochtäler, von dem man noch lange sprach und erzählte. Heute aber greift die Welt mit ihren Ereignissen auch auf die höchsten und abgelegensten Höfe. Die Aufmerksamkeit der Bewohner ist nicht mehr auf das enge Geschehen des Tales gerichtet, sondern auf die Welt. Zwei furchtbare Kriege haben auch die Jugend in einen fremden Strom gerissen.

An Stelle des Gedächtnisses ist das Buch getreten, die Zeitung und der Rundfunk. Damit finden die naturhaften Anlagen der Volkserzähler kein Betätigungsfeld mehr. Sie sind überflüssig. Wenn der Rundfunk spricht, schweigt die Bauernstube. Das ist kein Vorwurf, sondern die Feststellung einer Tatsache! Andererseits jedoch macht man die Erfahrung, daß die Bauern zu den aufmerksamsten und dankbarsten Hörern des Rundfunks zählen.

Daher ist es kein Wunder, wenn die alten Volkserzähler langsam zum Aussterben verurteilt sind. Nachwuchs ist keiner mehr vorhanden und das Betätigungsfeld fehlt. Wo eine Straße auf dem früheren Acker gebaut wird, kann kein Korn mehr reifen. So ähnlich ist es auch auf geistigem Gebiet!

In der Rückschau auf die letzten 100 Jahre kann man daher folgende Übergangsstufen feststellen, in denen die geistig-kulturelle Situation des Bauerntums jedesmal grundlegend geändert erscheint:

1. Die Zeit des offenen Heldfeuers.

2. Die Zeit des Bahnbaues und des sich entwickelnden Verkehrs (mechanisiertes Zeitalter).

3. Die Zeit der Zeitungen.

4. Das Zeitalter der Militärdienstzeit der Bauernburschen.

5. Der Erste Weltkrieg.

6. Der Rundfunk.

Die großen Tiroler Volkserzähler haben ihre Jugend noch am offenen Herdfeuer verbracht. Dort konnte sich ihr ursprüngliches Talent entwickeln. Der Tiroler Volksschriftsteller Reimmichl hat seine ersten Anregungen von einem solchen naturhaften Talent erhalten und auch seinen Namen leitet er davon ab:

"Was der Michl erzählt". Später wurde dann aus dem bäuerlichen "Michl" der "Reimmichl". Peter Rosegger aber hat die Lust zum Fabulieren von seiner Mutter mitbekommen, "aus dem Schoße einer des Lesens und Schreibens unkundigen Köhlertochter, die aber voll von jener Gnade war, der wir auch unsere Volkslieder und Volksmärchen danken", wie Geramb so schön von ihr sagt.

Mit dem Bahnbau jedoch und mit der Technisierung des Lebens ist die erste Stufe des Rückganges zu erkennen. Dann öffneten die Zeitungen den engen Kreis des Tales und weiteten dafür den Blick in die Welt. In vielen Fällen bildete die Militärdienstzeit einen Bruch mit der Vergangenheit. Der Rundfunk jedoch schloß die enge Bauernstube direkt an die Welt an.

So ergibt sich zwingend die Tatsache, daß die Volkserzählungen und Volkssagen nicht mehr als lebendiges Kulturgut erhalten werden können, weil ihr Ursprung wie eine unsichtbare Quelle versiegt ist.

Es haben sich in der Entwicklung der Zeit und der Technik grundlegend andere Verhältnisse entwickelt. Die einstigen Voraussetzungen fehlen! Man kann dem Volke auch nicht befehlen, Rundfunk und Zeitung aufzugeben und 50 Jahre zurückzugehen. Kultur und Volkstum lassen sich nie kommandieren! Übrigens - welchen Wert hätte es auch? Die Verbindung mit der Vergangenheit ist schon zerrissen und die Kluft ist zu groß! Man spricht ja in der Volkskunde von einem "sinkenden Kulturgut", um Worte des Volkskundlers Viktor v. Geramb zu gebrauchen.

Aber gerade aus dieser geistig-kulturellen Situation erwächst eine große Aufgabe für die Gegenwart und Zukunft: Ähnlich wie der Restaurator die gefährdeten Kunstwerke schützt und pflegt und erhält, ähnlich wie im Volkskunstmuseum die Schätze der Vergangenheit festgehalten werden, müssen auch geistige Volkskunstmuseen entstehen, in denen die geistig-kulturellen Schätze des Volkes liebevolle Pflege und Aufnahme finden! In verständnisvoller Voraussicht haben schon frühere Generationen den Anfang gemacht und den Grundstock gelegt, in Tirol die grundlegenden Arbeiten der Gebr. Zingerle, Alpenburg, Heyl, Hörmann und vieler anderer. Wie schön schreibt doch Joh. A. Heyl im Vorwort seines großen Werkes "Volkssagen aus Tirol":

"Schon seit meinen Studienjahren habe ich mich der Sammlung von Sagen und Legenden beflissen, und um das Volk in seiner Denk- und Darstellungsweise gründlich kennen zu lernen, die oft so hochpoetischen und ethisch gehaltvollen Sagenschätze aus erster Quelle zu schöpfen, habe ich später jedes Jahr einen anderen Sommeraufenthalt gewählt, immer inmitten des Landvolkes auf Bergen und in tieferen Tälern..."

Diese so schön begonnene Aufgabe muß auch in der Gegenwart wieder mit verstärkter Kraft fortgesetzt werden. Wenn es auch nicht mehr gelingt, die Sagen wieder lebendig zu machen, wie eine versiegte Quelle eben trocken bleibt, so bleibt doch die Aufgabe, diese entschwindende Welt festzuhalten, soweit es noch möglich ist. Wie arm wäre die deutsche Kinderstube, wenn die Gebrüder Grimm nicht die Volksmärchen gesammelt hätten? Hänsel und Gretel ist ein Begriff nicht nur in der deutschen, sondern auch in der "internationalen Kinderwelt".

An Stelle des mündlichen Erzählers ist das Buch getreten. Das Buch muß die Aufgabe des Gedächtnisses der Alten erfüllen, ja das Buch ist das Gedächtnis der modernen Menschen. Im Buch müssen daher die ersterbenden Reste der heimatlichen Volkssagen gesammelt und festgehalten werden, um sie einer späteren Generation zu erhalten. In der Schule wird das heimatliche Erzählgut für den Unterricht wertvollste Dienste leisten. Was das Volkskunstmuseum für die bäuerlichen Geräte bedeutet, muß das Buch für das geistige Kulturgut des Volkes erfüllen. Für das Buch und auch für den Rundfunk ergeben sich daher verpflichtende Aufgaben der Volkskultur! Spätere Generationen werden dafür dankbar sein!

Von diesem Standpunkt aus verdient der Universitätsverlag Wagner den ehrlichsten Dank für die Herausgabe dieses Werkes, das im November des vergangenen Jahres nur im halbvollendeten Rohentwurf vorgelegt worden ist. Erst die Annahme des Werkes durch den Verlag veranlaßte mich dann, die fehlenden Teile zusammenzutragen und alles zu einer Einheit zu gestalten. In dieser Zeit konnten sehr wesentliche Ergänzungen und neue Motive gefunden werden. Aber ohne das Vertrauen des Verlages wäre vielleicht die Arbeit nie mehr fertiggestellt worden. Denn jedes weitere Jahr bedeutet einen Verlust: Um 1938 war die Sagensammlung verhältnismäßig leicht und einfach, weil es in jedem Tal noch gute Erzähler gegeben hat. 1847/48 gestaltete sich die Sammlung von Sagen schon viel mühevoller. Im November 1953 hatten sich die Verhältnisse wieder verschlechtert, weil mittlerweile viele alte Leute gestorben waren. Mühevoll mußte Baustein um Baustein zusammengetragen werden, wobei die abgelegensten Höfe aufgesucht wurden. Manche Sagen über Pfeifer Huisile waren so verschüttet, daß sie nur bruchstückweise durch Befragen vieler Erzähler mühsam "gehoben" werden konnten. Es war tatsächlich die letzte Stunde!

Der Dank gebührt auch dem Kulturreferat der Tiroler Landesregierung. Auf Vorschlag des Verfassers wurde Meister Toni Kirchmair mit der künstlerischen Ausschmückung des Werkes betraut, wofür das Kulturreferat einen Beitrag leistete, dadurch erhielt das Buch auch künstlerisch eine wertvolle Note. Toni Kirchmair hat sich wirklich als "Meister" erwiesen. In stärkster Einfühlungskraft hat er mit feinen und sicheren Strichen Bilder geschaffen, die nicht nur eine Ergänzung, sondern eine Bereicherung der geschriebenen Sagen darstellen. Ihm gilt daher unser besonderer Dank!

Nicht vergessen seien aber auch die Erzähler selbst, denen wir ja diese Überlieferungen verdanken. Die meisten alten Leute erzählten gerne vom Pfeifer Huisile. Wenn zuerst unauffällig der Name Pfeifer Huisile erwähnt wurde, dann ging oft ein Lächeln über ihr Gesicht, als erinnerten sie sich der eigenen Jugend und der langen Abende am offenen Herdfeuer, als ihr Nehndl vom Pfeifer Huisile erzählt hat.

Noch eine Zeitlang dauerte es meist, bis das Vertrauen hergestellt oder bis die Erinnerung richtig wieder wachgeworden war, dann gab es oft einen netten längeren oder kürzeren "Hoangart". Oft fand das Gespräch in der Bauernstube statt, dann wieder in der Kuchel oder vor der Tür auf der Hausbank, ein anderesmal auf einer kurzen Rast bei der Holzarbeit oder vor dem Spinnrad der alten Muetter, nicht selten auch in einer vollen Wirtsstube, gelegentlich aber lag ein altes Bäuerlein müde und schwach auf der Ofenbank und erzählte seine letzten Erinnerungen.

Der älteste Erzähler in Südtirol war der Steiner Todl (Toni) aus Walten am Jaufen, der nunmehr im Dezember 1953 im hohen Alter von 94 Jahren gestorben ist. Er hat noch persönliche Freunde und Verwandte Andreas Hofers gekannt. Sein Onkel Johann Schwarz vulgo Stoaner Hons, war ein Kurier Andreas Hofers. Dieser wurde einmal von den Franzosen gefangen. Als er um seinen Namen gefragt wurde, sagte er: Johann Morgenfort. Und richtig - er hatte nicht gelogen, dann am "Morgen war er fort"! Die älteste Südtiroler Erzählerin ist das Auckenthaler Müetterle vom Hof in Pflersch, die im Oktober 1953 den 90. Geburtstag gefeiert hat. Der älteste Nordtiroler Erzähler ist der Feiserbauer Johann Pittracher von Gschnitz, der in unverwüstlicher Lebenskraft im Dezember 1953 eine schwere Operation mitgemacht hatte, die er fieberlos überwand, so daß er nach 14 Tagen wieder heimgehen konnte. Acht Tage vor der Operation ging er noch zu Fuß von Steinach nach Gschnitz. Den ganzen Sommer über arbeitete er mit der Sense auf dem Feld. Die älteste Nordtiroler Erzählerin aber ist das Penzenweibile von Navis, das am 28. Februar 1954 in das 100. Lebensjahr getreten wäre, aber noch am 20. Jänner 1954 ist ihr der Tod zuvorgekommen...

Quelle: Pfeifer Huisile, Der Tiroler Faust, Hermann Holzmann, Innsbruck 1954, S. 99 - 103.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Februar 2005.