Poesie auf den Gebirgsfriedhöfen.
Friedhof, Carl Jordan

Ich bin kein Dichter, kaum ein Reimschmied der gewöhnlichsten Sorte. Habe ich je einmal den Pegasus bestiegen, so war es ein Ritt, wie über das holprige Pflaster einer Dorfstraße, und ich mußte selbst die Zähne übereinander beißen, um die Zunge nicht in Gefahr zu bringen. Vermesse ich mich nun gar, über Volkspoesie zu schreiben, so begnüge ich mich mit den Brosamen vom Tische der Reichen und beobachte weit ab vom Strome des Touristenverkehrs, der an gut eingerichteten Gasthöfen, auch Hotels genannt, vorbeifleußt, und auf welchem munter jene formgewandten Erzähler schwimmen, die in den Spalten unserer großen Weltblätter gar so amüsant über Land und Leute aus den Bergen zu erzählen, wissen.

Ich habe es nie unterlassen, am Wege das Marterl zu betrachten und auf dem einsamsten Dorfe den Friedhof zu besuchen und so ist in meinem Notizbuche manches Verslein eingezeichnet, das der Schmerz diktirt [diktiert] und oft in seiner rührenden Naivität packender ist, als der prunkvollste Spruch in Marmor gemeiselt. — Ueberhaupt gefällt nur der einsame Dorffriedhof, auf welchem der "wohlersame Bauer" oder die "tugendsame Jungfrau" unter den schlichten Holzkreuzchen ruht, viel besser, als der städtische Friedhof mit seinen mächtigen Leichenblöcken, unter welchen der X. Y. schläft, der "ein Menschenfreund der edelsten Sorte, ein guter Vater, ein treuer Gatte, vieljähriger Magistratsrath und Zugführer der Feuerwehr ec. ec. war, und tiefbetrauert von seinen zahlreichen Verwandten und Freunden heimgegangen ist".

Wenn ich so auf einem einsamen Dorffriedhofe herum streiche, überkommt mich immer ein ganz merkwürdiges Gefühl tiefster Ruhe und Friedens.

All die Grabkreuze und Monumente erwecken in mir durchaus keine melancholischen Gedanken.

Es ist mir gerade, als sei ich schon ein Mitglied der stillen Gemeinde, abgeschlossen von der Außenwelt mit all den vielen Freunden im Glück und kalten Herzen im Unglück. Das Geräusch des Lebens dringt aus dem nahen Dorfe zu mir herauf.

Ganz deutlich kann man es am plötzlich lauteren Geklapper erkennen, wenn der Müller die Thüre seiner Mühle öffnet. Von der Schmiede hört man das Pochen des Hammers herüber und nun der Kinderjubel? Ah, die Schule ist aus und der alte Herr Lehrer steht schon wieder bei den Bienenstöcken und grübelt nach, warum der liebe Gott dem jungen Menschenkinde die Emsigkeit und den Fleiß des kleinen Thierchens nicht zur zweiten Natur geschaffen hat und in seiner frommen Einfalt argumentirt er, zu was wären da die praktischen Birkenbäume erschaffen, und womit würde ein Schulmeister seine Sünden schon auf dieser Welt abbüßen, denn ein "grantiger" Pfarrer könnte oft nicht dazu ausreichen.

Und dort drüben schleicht sich die Tragerin durch die Hinterthüre in das Haus, die Bäuerin hat ihr heute bei der Frühmesse mit dem linken Auge zugewinkt, rechts kniete der Bauer. Sie hat wieder einige Dutzend Eier und etwas Butter "af der Seit", denn der Bauer "braucht nit ôlls zu schmöckn". —

Doch ich wollte ja von meinen Streifereien auf den Friedhöfen erzählen und von den naiven, schlichten und doch oft so rührenden Poesien auf den verwitterten Kreuzen,

Unter dem Thurme einer kleinen Kirche fand ich ein Grabkreuz, himmelblau mit gelben Streifen gestrichen, und die Inschrift lautete:

Hier ruht unser einziger Sohn
N. N.
O, Herr! Du hast ihn uns gegeben,
O, Herr! Du hast ihn uns genommen,
Lasse uns im Himmel wieder
Recht schön zusammen kommen.

Ich konnte es mir recht gut vorstellen, wie der einfache schlichte Vater am offenen Grabe gestanden sein wird, sich mit dem Rücken seiner abgearbeiteten Hand über die nassen Augen fahrend, als man seinen Stolz, seinen einzigen Sohn einscharrte. —

Auf demselben Friedhofe fand ich ein eisernes Kreuz, an dessen Rückseite ein kleines Thürchen zu öffnen war und nachstehender Vers zu lesen stand:

Sechs Engel sind vorausgegangen,
Dann hat der Tod den Mann gefangen,
Der letzte flog nun auch ihm zu,
Herr, schenke allen die ew'ge Ruh',
Mir aber schicke hier hernieden
In Glaubenshoffnung stillen Frieden.

Das Kreuz erzählte mir eine ganze Dorfgeschichte. Es war schmuck und das Grab nett gepflegt. Vermögliche Bauersleute mußten es gewesen sein, die in guter, glücklicher Ehe zusammen lebten. Der Sterbetag des letzten Engels war schon vor mehr als zwei Jahren und auf dem Grabe lagen frische Blumen. Sechs Kinder verloren die armen Leute, und nun legte sich auch der Mann hin, um zu sterben. Das einzig übrig gebliebene Töchterchen verstand nicht, warum es die Mutter so heftig weinend an sich zog, warum der Vater gar nicht mehr aufstehen wollte und auf einem so hohen Bette in der getäfelten Stube schlief. Und als dann die vielen fremden Menschen kamen, flüchtete es sich in eine Ecke, bohrte beide Fäustchen in die Augen und fing an, bitterlich zu weinen. Bald aber lag das arme, glückliche Kind auch auf seinem hohen Bette in der großen Stube, entrückt diesem irdischen Jammerthale. Die Amme aus dem Dorfe hat es gar wunderlich herausgeputzt mit schönen weißen Blumen und mit einem Krönchen von Flittergold und auf die wachsbleichen Wangen malte sie mit Zinnober rothe Backen. Und am Kopfende faß die alte "Ahndl" und wehrte den Fliegen, gerade wie beim Vater und den andern Engeln. —- Die arme Mutter aber kramte in der Kammer am Schrein unter den Kindersachen und betete aus tiefstem Herzen:

"Mir aber schicke hier hernieden,
Der Glaubenshoffnung stillen Frieden."

***

Ein andermal saß ich auf der Mauer des Friedhofs und unweit von mir, gerade unter einer Station, auf welcher der Herrgott abgebildet war, wie er unter der Last des Kreuzes zusammenbricht, befand sich ein frischer Grabhügel. Drei Kinder trugen aus dem nahen Bache runde weiße Kalksteine zu, die ein größerer Junge als Einfassung für den Grabeshügel in die Erde schichtete. Das Grab war besteckt mit kurzen Buxzweigen in Kreuzesform. Plötzlich wurden sie vom "Bettelrichter" mit ziemlich unfreundlichen Worten abgerufen, und als ich wieder zum Dorfe hinauswanderte fand ich, wie der große Junge mit einem kleinen Bündel einem Bauern des Weges weinend folgte. Gestern begrub man die Mutter der armen Waisen und heute wurden alle bei verschiedenen Bauern von der Gemeinde gegen das "mindeste Angebot" ausgestattet. Auf dem Grabe der armen Mntter steht kein Kreuz mit einem Verse und die einfachen Zierden der Kinder wird Wind und Regen bald verderben. Die Gräber ohne Inschriften könnten aber oft am meisten erzählen.

Kurz angebunden ist die Grabschrift:
Im Leben so roth wie Zinnober,
Im Tode aber so bleich.
Sie starb am vierten Oktober,
Am sechsten war schon die Leich.

Auf einem alten, ausrangirten Kreuze, welches ich in der Ecke einer halb verfallenen Todtengruft fand, entzifferte ich mit vieler Mühe:

Mensch, du weißt nicht Tag und Stund,
Wann der Tod dir schließt den Mund,
Darum bet', so lang er offen,
Dann kannst auf Seligkeit du hoffen.

 

Auf einem anderen Kreuze stund:

Hier ruht der wohlersame N. N.,
der einem Schlaganfalle plötzlich erlegen.
Dreimal schon in seinem Leben,
Hat ihm der Tod den Deuter geben,
Das vierte Mal, da war es aus,
Da trug man ihn als Leich in's Haus
R. I. P.

Eine einfache und schlichte Klage, darum aber nicht minder rührend, fand ich auf einer kleinen Marmorplatte eines Friedhofs im Vintschgau:

Mitten aus dem Eheglück
Nahmst, o Herr, den Mann zurück.
Ließt zu Staub und Asche werden:
O Herr, was soll ich nun auf Erden?

Es ist jammerschade, daß die alten schönen geschmiedeten Kreuze immer seltener werden und nun solchen aus Gußeisen Platz machen. Mit den Schmiedekreuzen verschwinden die alten Malereien und die alten Sprüchlein. Da war beim ersten Sterbefall im Hause immer die ganze Familie abgebildet. Die Männer nnt den Hüten unter dem Arme in einer Reihe und die Weiber auf der andern Seite, alle mit fromm gefalteten Händen. Die ganz kleinen Kinder lagen auf einem Tisch als Wickelpuppen. Starb nun Jemand, so malte man über den Kopf des Betreffenden oder auch über den gefalteten Händen ein Kreuzchen.

Die Poesie der Dorffriedhöfe wird durch die alles beleckende, sogenannte Kultur weit hinaufgedrängt in das Gebirge. Sie verschwindet, so weit die quecksilbernen Glaslenchter und Vasen der Fünf-Kreuzer-Bazare reichen.

Weit drinnen im Ultenthale fand ich ein kriegerisches Erinnerungszeichen. Es war ein gut erhaltenes Holzkreuz ohne Christusbild; in der Mitte war der Name Jesus gemalt und am Ende vom Querholz waren zwei, nun allerdings von Grünspan überzogene messingene Granaten, wie sie früher die Grenadiere auf den Patrontaschen trugen, angebracht.

Zur Erinnerung an den

Kaiserjäger N. N.,
welcher am 24. Juni 1866 bei Custozza gefallen ist.
"Gieb Gott, was Gottes,
Und dem Kaiser, was des Kaisers ist,"
R. I. P.

Es ist allerdings keine Grabschrift, sondern vielmehr eine gemeinsame Bitte aller Verstorbenen, die ich unter einer alten Abbildung des Fegefeuers fand. In demselben war eine zahlreiche Gesellschaft abgebildet: Päpste und Bischöfe, Könige und Kaiser, Kaufleute, Bettler, Nonnen und Mönche. Darunter hin war die breite Straße zur Hölle, auf welcher auch eine stattliche Anzahl Erdenbürger aller Stände wanderte. Die Inschrift lautete:

Im Fegefeuer strecken sie die Hand'
Hinauf über die glühnigen Wänd'
Und jammern: o Wand'rer vergiß uns nie,
Bet' ein Vaterunser und Avemarie.

Auf den Dorffriedhöfen wird keine besondere Reihe eingehalten, sondern es werden, wenn es halbwegs möglich ist, die Familienmitglieder neben einander begraben.

***

Auf einem Friedhofe fand ich ein altes Mandl sitzen, das sich vergebens abmühte, mit schwedischen Zündhölzchen, die sich, der liebe Himmel mag wissen wie, in seine Blechbüchse verirrt hatten, Feuer für sein Pfeifchen zu machen. Ich war ihm behilflich, und nachdem er seinem Aerger "über die nuimodischen Kenthölzer" Luft gemacht hatte, sagte er:

"Mei, i bin fölli ôlm lei auf der Paß (Aufpasser) af'n Freithouf und af'n Huangart.

"Zerst gieb i oubocht, daß miar 's Platz! neb'm meiner Ôlt'n bleibt. Wenn sie mi a mol oithian, kimmt miar für, ma kannt schiar zômhuangert'n.

"Und af'n Freithouf, wo olle meine Fruind und Bekonnt'n schlôf'n, dunkt 's mi völli fein, 's simuliarn".

Und er hat Recht der alte Tschaperl. So auf einem einsamen Dorffriedhofe ist es auch schön zu simuliren. Wenn alles ringsum still ist, so hört man das "Tick, Tack der Thurmuhr, das Laub raschelt über die Gräber und die Weihbrunnkessel ächzen an den Ketten.

***

Meist liegt die Dorfkirche auf einer Anhöhe und gestattet einen schönen Ausblick über die Umgebung. Das Gras wuchert in Massen, denn der Bauer hat für die Pflege der Gräber keine Zeit. Er braucht seine Arbeitskraft vollauf zur Bestellung der Felder.

Am Sonntag aber, wenn er aus der Kirche tritt, sucht er "seine Gräber" auf, um Weihbrunn "aufzuspritzen". Und ist die Erinnerung durch die Länge der Zeit abgeschwächt, so markirt er diese pietätvolle Handlung von der Kirchthüre aus gegen die Gräber zu.

O Herr, o schenke uns die Gnad'
Zu leben hier im Frieden,
Denn das ist ja das größte Glück
Auf dieser Erd hienieden.
Und wenn es gibt oft Zank und Streit,
Und Kümmerniß und Sorgen,
Dann ruf uns in die Ewigkeit,
So sein wir g'wiß geborgen.
So ruf uns in die stille Rei'
Sechs Fuß tief in die Erde,
Daß unsre arme Sehle frei
Von allem Kummer werde.

Diesen frommen Wunsch fand ich auf einem Missionskreuze, halb verwachsen und vergessen, ein Zeugniß, welch hohes Gut der Friede hier unter den Menschen ist, daß der Dichter lieber auf das Leben verzichten will, als den Frieden verlieren.

***

Ein gewisser Ausdruck von Behaglichkeit ist in dem Gedichtchen auf einem alten Grabkreuz des Friedhofes zu Gossensaß am Brenner. Dasselbe lautet:

"iatz hab ich üwer Wunden
und bin von Schmerzen frey
die langen traur Stunden
seind Gott sey Dank vorbey
das Grab gibt mir Fried
die threnen Wisch ich ab
Und lig von schmerzen miet
Ganz ruhig in den Grab."

Klingt das nicht wie das vergnügte "Ah" eines müden Wanderers, wenn sich derselbe nach angestrengtem Marsch im Schatten eines Baumes in das Gras streckt? Der Friedhof in Gossensaß zeichnet sich ebenfalls durch seine wunderschöne Lage und die prächtige Fernsicht aus; er zeigt ausgeprägte Spuren des Fremdenverkehres, denn neben dem einfachsten Holzkreuzchen mit den schlichten, von ungeübter Hand geschriebenen Inschriften, findet man die massiven Grabsteine, die in goldenen Lettern bekunden, welch wohlgeborene Herrschaften hier der Auferstehung entgegenharren.

Ein des Lebens recht müder Mensch mußte da auf dem Friedhofe in St. Martin begraben worden sein, denn die Grabschrift sagt:

"Du bist nun fortgezogen
Aus diesem Jammerthal
Und wärst kaum dageblieben
Hättest gehabt du auch die Wahl".

In St. Walburg steht auf dem Grabkreuze eines "ehrsamen Fütterers":

"Ein Stier druckt mich an die Wand
Vielleicht Gott die Buß zu kurz befand
Nur drei Tag hab ich gelitten
Um einen Vater unser thu ich bitten."

Nun, mein lieber und ebenso geduldiger Leser, schließe ich meine Friedhofbetrachtungen, und wenn sie den Freunden dieses Buches sonderbar erscheinen, so erlaube ich mir nur zu sagen, daß, wer Land und Leute beobachten will, dieselben nicht nur in der Freude, fondern auch in der Trauer aufsuchen muß.

Und in unserem Tiroler Landl liegt noch ein ganzer Schatz von Eigentümlichkeiten und Charakteristik der Gebirgsbewohner begraben. Wer ihn heben will, muß, wie die alten Schatzgräber durch Strauchwerk und Gestrüpp hin zur Stelle kriechen, wo er liegt. Und das Zauberwort?

Der Schatzgräber muß die Art und Weise der schlichten Leute kennen und verstehen und muß in ihrer Weise mit ihnen verkehren und sie nicht durch fremde Art kopfscheu machen. Er muß die Gabe haben, die mir seltener und seltener zu werden scheint: Nicht mit offenen Augen blind und mit offenen Ohren taub in der Welt herumzusteigen. Er muß weit abgehen vom Strome des allgemeinen Touristenverkehres, der an Gasthöfen, auch Hotels genannt, vorbeifleußt, um den von der modernen Kultur noch unbeleckten Gebirgsbewohner zu finden.

Quelle: Der Burggräfler, Bilder aus dem Volksleben, Karl Wolf, Innsbruck 1890, S. 41ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Januar 2006.
© www.SAGEN.at