KAISER KARL IM UNTERSBERG

Reich an Geschehnissen, wunderbaren Wesen und sagenhaften Gestalten ist der mächtige Untersberg, der unweit Salzburg stolz sein majestätisches Haupt zum Himmel erhebt. Im hohlen Innern des Berges lagern unermeßliche Schätze; Zwerge und Riesen, Helden und Fürsten haben dort ihren Sitz aufgeschlagen, und auch die wilden Frauen, den Menschen wohlgesinnt, sind im Berg daheim. Doch das erhabenste Geheimnis, das der Berg bewahrt, ist der greise Kaiser, der im Untersberg schläft, bis seine Zeit gekommen ist. Nur selten, alle hundert Jahre einmal, glückt es einem Sterblichen, sein Antlitz zu schauen.

Einst weidete ein armer Hirtenknabe seine Herde am Fuß des Untersberges. Frohgemut saß er auf einem bemoosten Stein und schnitzelte an seinem Weidenpfeiflein, ab und zu einen wachsamen Blick auf die weidenden Lämmer und Ziegen werfend. Plötzlich stand wie aus dem Boden gewachsen ein zierliches Zwerglein vor ihm und fragte mit heller Stimme: "Heda, lieber Junge, willst du wohl den Kaiser Karl im Untersberg schauen?"

Unerschrocken erwiderte der Knabe: "Das will ich wohl!" Er hatte sogleich erkannt, daß er einen der Untersberger Zwerge vor sich habe, die damals gar nicht so selten den Menschen über den Weg liefen.

Kaiser Karl im Untersberg © Maria Rehm

Kaiser Karl im Untersberg
© Künstlerin Maria Rehm
© Viktoria Egg-Rehm, Anita Mair-Rehm, für SAGEN.at freundlicherweise exklusiv zur Verfügung gestellt.

"So komm mit mir!" forderte ihn das Männlein auf und ging, dem Knaben winkend, voran. Dieser folgte ihm ohne Zaudern durch Gebüsch und über Felsgeröll, Schluchten aus und Schluchten ein, tief hinab gegen das Innere des Berges zu, bis sie endlich bei einer eisernen Tür anlangten, die fest verschlossen schien. Aber nirgends war daran ein Schloß oder ein Schlüssel zu sehen. Gespannt wartete der Hirtenjunge, was wohl jetzt geschehen werde und wie der Zwerg sich Eintritt verschaffen würde. Doch der machte nur eine Bewegung mit der Hand; da gab es einen donnerähnlichen Krach, die Tür sprang auf, und ehe der Hirte sich's recht versah, befand er sich im Innern einer großen, prächtigen Halle, deren weitgeschweiftes, glitzerndes Gewölbe auf vielen hundert mächtigen Säulen ruhte. Die Wände der Halle erglänzten von reinstem Silber, und dazwischen strahlten hellleuchtende Karfunkelsteine. Ringsherum standen Wächter, stumm und starr, gleichwie aus Granit gehauen, und ebenso regungslos, ehernen Bildsäulen gleich, lagerten Ritter und Landsknechte in der weiten Rundung des Raumes.

In der Mitte des ungeheuren Saales aber sah er den greisen Kaiser auf goldenem Stuhl sitzen, ein mächtiger Tisch stand vor ihm mit schwerer marmorner Platte. Eine funkelnde Krone schmückte das Haupt des Kaisers, seine Augen waren wie im Schlummer geschlossen. Ein silberweiß glänzender Bart floß breit vom Antlitz des Herrschers herab und hatte sich schon zweimal um den marmornen Tisch herumgeschlungen. Viele edle Herren, Grafen, Fürsten und geistliche Würdenträger, in glänzender Rüstung und kostbaren Gewändern, saßen um ihn herum, die Häupter in die Hände gestützt, aber auch sie stumm und ohne Bewegung und gleich ihrem Kaiser in schweren, tiefen Schlaf versunken.

Staunend schaute der Knabe all die Pracht und Herrlichkeit, die sich hier seinen Blicken bot, und in banger Ehrfurcht beugte er die Knie vor des Kaisers Majestät. Da hob der Herrscher müde sein Haupt, seine Lider taten sich halb auf, und ein traumverlorener, verschleierter Blick traf den erschaudernden Knaben. Langsam öffneten sich die Lippen unter dem schneeweißen Bartgewoge, und eine ehrfurchtgebietende Stimme sagte: "Sprich! Fliegen wohl zur Stunde die Raben noch um den Berg?" Und der Knabe erwiderte demütig: "Sie fliegen immer noch umher!"

Da senkte der Kaiser schmerzerfüllt sein Haupt, und mit klagender Stimme sprach er: "So muß ich noch weiter schlafen hundert Jahr!" Seine Augen schlossen sich wieder, er versank in den alten Schlummer, und mit ihm erstarrten alle Ritter und Herren, die die Häupter erhoben hatten, als ihr Kaiser erwacht war.

Der Zwerg aber winkte dem Knaben, daß er ihm folge, und führte ihn stillschweigend aus der Halle hinaus und den Weg zurück, den sie vorher genommen, bis sie wieder bei der Herde anlangten, die ruhig auf ihren Hüter gewartet hatte. Zuletzt übergab das Männlein dem Hirtenknaben ein reichliches Geschenk und verschwand so plötzlich, wie es erschienen war.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich, o. A., o. J., Seite 357