11.1 Rettung des Kletterers im Pass Stein

Ein Mann verstieg sich auf der Suche nach Kraftblumen in den Felswänden des Grimmings. Nicht aufwärts und nicht abwärts konnte er, und schon nahte der Abend des dritten Tages. Da packte ihn die Verzweiflung. Um nicht hier, fern von aller Welt, verhungern und verdursten zu müssen, wollte er sich in die Tiefe stürzen. Bevor er aber seinen Entschluss ausführte, warf er noch einen Blick hinab ins Tal. Und dort sah er die Straße, die sich jenseits des Baches über den Berg hinauf wand, sah den Ort, wo das Marienbild unter Tannen versteckt hing. Ja, er glaubte sogar, das Bild selbst durch das Buschwerk leuchten zu sehen. Unwillkürlich faltete er die Hände und seufzte: "Maria, hilf mir in meiner Not!" Und nun geschah das Wunderbare: Augenblicklich verschwand seine Verzweiflung und frohes Hoffen umzog seine Seele. Er bereute seine Verzagtheit und verrichtete ein Gebet, das ihm tief aus dem Herzen drang. Neu gestärkt und voll festem Vertrauen erhob er sich von den Knien und legte sich zum Schlafen nieder.

In der Nacht fing es rings herum auf einmal an zu rauschen und zu brausen. Der Donner rollte fürchterlich in den Wänden und Blitze zuckten wie glühende Schlangen hin und her. Regen brauste nieder und links und rechts stürzten Gießbäche zu Tal. Der Mann aber war geborgen unter einem überhängenden Felsen. Da tat es plötzlich ein fürchterliches Krachen und Prasseln, als ob der ganze Berg auseinanderbersten würde. Die Erde zitterte und bebte, und Steine stürzten wie tosende Wasserfälle über die Wände hinab.

Als der Morgen graute, sah der Mann, dass sich ein mächtiger Felsblock, der ihm bisher den Ausweg versperrt hatte, losgelöst hatte und abgestürzt war. Jetzt war der Weg frei und der Mann konnte seinen Felsenkerker verlassen.

Mit Kraftblumen sind laut Lobenstock 1896 Primula auricula gemeint.
Nach der Ortsbeschreibung aus der Perspektive des Kletterers hatte er sich in den Felswänden des Grimming östlich der heutigen Staumauer verstiegen, also im Gebiet der Gemeinde St. Martin, und konnte von dort aus den kurvigen Straßenabschnitt zwischen dem Talgrund und dem Schluchteingang sowie die Stelle des damals noch tiefer gelegenen Marienbildes am Hochbrucker sehen.

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch